Ungemütlich ist es weiterhin für die alten Götter, die in der Moderne in allerlei Inkarnationen unter dem schwachen Menschenvolk leben. Seit der Götterkiller Thymos wieder auf den Plan getreten ist, geht es einfach drunter und drüber. Poseidon, Meeresgott und mittlerweile Reeder, fiel dem Rebellen schon zum Opfer, der weiter keine Ruhe gibt und auch Menschen instrumentalisiert. So etwa überfällt er ein Krankenhaus und liefert sich einen wilden Schusswechsel mit der Polizei, während dem die Partnerin des Cops Franck Dito schwer verletzt wird. Dito gibt sich mit den handelsüblichen Erklärungen und Anfeindungen seiner Kollegen nicht zufrieden und macht sich auf die Recherche, zumal ein Foto, das bei einem getöteten Angreifer aufgefunden wird, zu einem Jetsetter führt, hinter dem sich niemand anders als Schönling und Sportskanone Apollo verbirgt.
Trotz Polizeischutz gelingt es Thymos, den Beau zu entführen, der allerdings nach einigen Tagen ohne Erinnerung wieder auftaucht. Zeus scheint das alles relativ schnurz: seine Frau Hera, mittlerweile Geschäftsführerin eines Weltkonzerns, muss ihn zu seinen Business-Auftritten schlichtweg treten. Athene – in ihrer Funktion als Chefin der Pegasus-Stiftung – fahndet einstweilen nach dem Verbleib göttlicher Waffen, während auch die Helden Perseus, Odysseus und Herakles im Auftrag von Ares ihr eigenes Süppchen kochen. Diese neu gefundene Spaltung der ganzen Götterfamilie nutzt Thymus taktisch klug aus – er unterbreitet dem eitlen, machthungrigen Apollo, den er ganz bewusst wieder freigelassen hat, einen perfiden Vorschlag…
Familienzoff der gehobenen Art, so in etwa darf man die Verwicklungen beschreiben, die die zutiefst vermenschlichten Götter in Herzets und Henschers faszinierender Variante der antiken Mythologie durchleben. Der Kunstgriff, die ohnehin allzu menschlichen Züge der Götter ins Hier und Heute zu übertragen, funktioniert nach wie vor bestens: Zeus lungert als abgehalfterter Geschäftemacher in einem Nobelhotel herum und bedrängt nach wie vor alles, was nicht bei drei auf der Palme ist; Apollo ist unter dem sinnigen Namen Solstice ein Society-Bürschchen, das auf jeder Ausgabe der einschlägigen Regenbogenpresse prangt; die alten Helden rumpeln als ungehobeltes Ermittlertrio durch die Gegend; und Inspektor Dito gibt den hard boiled cop, den man auch in Gotham antreffen könnte. Nach einer kurzen Phase der Geschlossenheit, die der Tod Poseidons und das Verschwinden Apollos nach sich zog, zerfällt der Clan wieder in alte Feindschaften, Rachsucht und Machtstreben – wie man das eben landläufig leider nicht nur aus jet set-Familien und fiktiven Verbänden wie den Ewings oder Carringtons kennt.
Neben der trefflichen Analyse menschlicher Verhaltensweisen gönnen uns Herzet und Henscher auch feine kulturelle Anspielungen: so etwa trifft sich Thymos mit Apollo in einem heruntergekommenen Kino, in dem sich der Götterkiller ganz privat eine Aufführung des Harryhausen-Trickspektakels „Jason und die Argonauten“ ansieht. Bei einer der spektakulärsten Szenen, in der Poseidon selbst auftaucht und Jason den Hals rettet, kommentiert Thymos lakonisch: „Das war zu seinen Glanzzeiten noch ganz was anderes“. Auch optisch gibt es aus Feder von Rafa Sandoval manchen Leckerbissen zu entdecken, so etwa die Schlachttableaus des Kampfes um den Olymp, in dem die alten Helden in die Bresche springen. Wenn die Personenfülle bisweilen auch ein wenig herausfordert, bietet die Göttersaga somit jede Menge Faszination in Wort und auch in Bild. (hb)
Die Kinder des Prometheus, Band 3: Der verlorene Sohn
Text: Henscher, Emmanuel Herzet
Bilder: Rafa Sandoval
48 Seiten in Farbe, Hardcover
Panini Comics
16 Euro
ISBN: 978-3-74160-639-7