Valencourt, im Nordosten Frankreichs. Ein kleines Dorf, ein paar Häuser, eine Kneipe. Und ein Waisenhaus, das von Mönchen geleitet wird. Dort leben im Jahr 1914 zu Beginn des Ersten Weltkriegs die Lulus: Ludwig, Lucas, Luigi und Lucien. Obwohl die vier Waisen unterschiedlichen Alters sind, bilden die Lulus eine verschworene Gemeinschaft, die gerne auch mal Unfug treibt. So baut man sich heimlich ein Baumhaus im nahen Wald, das als Unterschlupf dient, wenn die Jungs mal wieder ausgebüxt sind, was nicht selten passiert. Und ausgerechnet während einem ihrer ‚Ausflüge‘ taucht die französische Armee auf und evakuiert aufgrund der Frontnähe nicht nur das Waisenhaus, sondern gleich den ganzen Ort. Zurück bleiben lediglich die Lulus, die sich anfangs weder der Situation, noch der Gefahr bewusst sind, in der sie nun, ganz auf sich allein gestellt, schweben. Dann schlagen erste Granaten im Heim ein und im verlassenen Dorf stoßen die Lulus auf ein belgisches Mädchen, das von ihren Eltern getrennt wurde: Luce. Schließlich marschieren die Deutschen ein und besetzen Dorf und Waisenhaus…
Zwei Welten treffen hier aufeinander: die noch heile Welt der Kinder, die im Waisenhaus gut behandelt werden und die von Fantasie beflügelt in ihrem Mikrokosmos auf Abenteuer aus sind, und dann die eiskalte Realität des Krieges, zuerst abstrakt als drohende Gefahr, dann in Form von Granaten und schließlich in Person von deutschen Soldaten. Die Lulus kommen zwar ‚gut weg‘ – der Krieg streift den Ort nur, es gibt keine Gefechte, die Deutschen ziehen wieder ab und die Front entfernt sich schließlich – trotzdem lösen die Umstände eine Extremsituation aus: es wird Winter, die Häuser sind geplündert. Es gibt kaum was zu essen. Und zu allem Überfluß wird Luce auch noch ernsthaft krank. Zum ersten mal sehen sich die Kinder gezwungen, Erwachsene zu suchen und sie um Hilfe zu bitten.
Bis zu diesem Moment wissen die Lulus überraschenderweise mit der Situation umzugehen. Mit ihrer kindlichen Naivität begegnen sie der Gefahr, die für sie noch ein Abenteuer darstellt, mit dem Ort und dem Waisenhaus als Spielplatz. Erfrischend dabei sind auch die Dialoge: kindliche Dispute über Entfernungen (angesichts der Front, deren Rauch sich am Horizont abzeichnet) oder Diskussionen über Essen (Marmelade!) und ob Luce ein vollwertiges Mitglied der Lulus werden darf (vom Namen her würde es ja passen). Hardoc (d.i. Vincent Lemaire) arbeitet hier mit einem nicht ganz realistischen Zeichenstil, wobei sich die Charaktere der Kinder in deren Physiognomie widerspiegelt: der Draufgänger, der schon etwas älter ist (Lucien), der schlaue Tüftler mit Brille (Ludwig), der Gemütliche mit Mütze (Luigi) und das ängstliche Küken (Lucas).
So gehen Hautière und Hardoc nach bester franko-belgischer Tradition behutsam mit dem heiklen Thema Kinder im Krieg um, erzählen dabei charmant und warmherzig und wissen dem Leser so trotzdem das ein oder andere Schmunzeln zu entlocken. Die Lulus denken stets positiv, geschützt durch ihr eigenes Kindsein, und nutzen weitgehend die positiven Aspekte der Situation. Bis die Auswirkungen des Krieges in Form von Hunger, Kälte und Krankheit auch für sie spürbar werden. Die Welt der Erwachsenen holt sie ein. Der Schluss lässt dann erahnen, dass sich die Situation der Lulus nun merklich zuspitzen wird. Band 2, der im Original bei Casterman bereits erschienen ist und das Jahr 1915 abdeckt, ist in Vorbereitung und wird es zeigen. (bw)
Der Krieg der Knirpse, Band 1: 1914: Das Haus der Findelkinder
Text: Régis Hautière
Bilder: Hardoc
56 Seiten in Farbe, Hardcover
Panini Comics
13,99 Euro
ISBN: 978-3-95798-455-5