Frankreich hat zahlreiche Flugpioniere und berühmte Piloten zu bieten – nicht nur fiktive Comic-Flieger. Das beginnt schon mit den Gebrüdern Montgolfier, die den Heißluftballon erfanden, geht über Louis Blériot, der 1909 als erster den Ärmelkanal überflog, bis zu Antoine de Saint-Exupéry, der nicht nur den kleinen Prinzen schrieb, sondern auch hauptberuflich über den Wolken aktiv war, bis er im Zweiten Weltkrieg abgeschossen wurde. Einer dieser Pioniere war Henri Guillaumet. Dessen faszinierendstes Flugabenteuer wird in dem Auftakt der neuen Reihe über legendäre Postflieger von Autor Christophe Bec (Carthago, Heiligtum, Prometheus) thematisiert.
Juni 1930. Winter in Südamerika. Auf der einen Seite des Kontinents: Santiago de Chile. Auf der anderen: Buenos Aires. Dazwischen: die Anden, das Hochgebirge mit etlichen Sechstausendern, das den Kontinent von Nord nach Süd durchzieht. Verbunden werden die beiden Hauptstädte durch eine Luftpostlinie. Einer der Wagemutigen, die regelmäßig die Post über die Anden fliegen, ist Henri Guillaumet, ein erfahrener Pilot und Kollege von Antoine de Saint-Exupéry. Jetzt, im Winter, ist der Flug besonders gefährlich und prompt muss Guillaumet bedingt durch einen technischen Defekt mitten im Hochgebirge notlanden. Anfangs verharrt er noch bei seiner havarierten Maschine, doch Schnee und schlechtes Wetter machen ihn und seinen Doppeldecker am Boden für die Suchflugzeuge, die er regelmäßig sichtet, unsichtbar. Also beschließt er, mit seinem kargen Proviant (in einem Aktenkoffer!) und nur unzureichend gegen die Kälte geschützt, die nächstgelegene Stadt zu erreichen. Das bedeutet: 70 Kilometer quer durch Fels, Eis und Schnee…
Ein immer wieder faszinierendes Motiv: ein Gestrandeter oder Verunglückter versucht sich durch unwirtliche Natur und widrige Gegebenheiten ganz auf sich allein gestellt in die Zivilisation durchzuschlagen. Beispiele kennen wir aus Film und Literatur genügend. Aber eben auch aus der Realität. Denn Guillaumets Geschichte ist wahr. Und umso beeindruckender ist sein Überleben, wurden doch Piloten, die auf der höchst gefährlichen Flugroute über und durch die Anden verschollen gingen, praktisch keinerlei Überlebenschancen eingeräumt. Guillaumet ist sich seiner prekären Lage auch bewusst und wird von einem ungewöhnlichen Grund getrieben: seine Frau erhält nur dann seine Lebensversicherung ausbezahlt, wenn sein Tod von einem Arzt festgestellt werden kann. Dazu muss seine Leiche gefunden werden. Also versucht er soweit wie möglich in Richtung Zivilisation hinab zu gelangen, ein Trieb, der schließlich zu seinem Überleben führt.
Der Weg durch das schneebedeckte, unwirtliche Gebirge, durch die lebensfeindliche Kälte steckt voller abwechslungsreicher Episoden. Überall lauern Gefahren. Er stürzt, wird nass, friert, hungert. Dann verliert er auch noch seinen Koffer und lässt seinen schweren weil durchnässten Mantel zurück, setzt damit alles auf eine Karte. Er weiß, sollte er einschlafen, wird er erfrieren. Die Story wird in realistischen Bildern und stimmigen, kräftigen Farben geschildert, die Eis, Schnee und Fels nie eindimensional erscheinen lassen und oft einen kleinen Menschen verloren in großartiger Landschaft abbilden. Im Kontrast dazu – trotzdem auch in farblicher Harmonie – steht die Szene, als Guillaumet im Tal auf die Hirtin trifft, deren erstes Panel fast wie ein Gemälde aus einer heilen, romantisierten Welt anmutet: nach der harten, schroffen Gebirgslandschaft wirkt das Teffen auf Vegetation, Bäume, Menschen und Tiere wie eine Erlösung. Was es schließlich für Guillaumet auch ist. Christophe Bec (Vergessene Welt, Deepwater Prison, Siberia 56) verlässt mit ‚Aeropostale‘ seine phantastisch-mystischen Pfade und präsentiert überraschenderweise statt dessen eine Flieger-Serie, einen Abenteuer-Comic mit dokumentarischem Hintergrund. Und auch die hat er bestens im Griff. (bw)
Aeropostale – Legendäre Piloten, Band 1: Henri Guillaumet
Text: Christophe Bec
Bilder: Patrick A. Dumas, Diogo Saito (Farben)
56 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
14,80 Euro
ISBN: 978-3-95839-119-2