Februar 1897, in der Opera Garnier in Paris: Während einer Aufführung werden die Besucher Zeugen eines Mordes, der so grausig wie spektakulär inszeniert ist: Oberst Tréveaux, u.a. für die Sicherheit des Präsidenten verantwortlich, schwebt tot und blutend in Kreuzigungspose über den Köpfen des Publikums. Unter dem ist auch Amaury Broyan, der ehemalige Inspektor der Pariser Polizei, inzwischen nach dem offiziell unaufgeklärten Mord (wir wissen es besser) an dem Industriellen Alexandre de Breucq entlassen. Trotzdem schlägt in ihm noch sein Polizisten-Herz, er macht sich sofort auf, den Mörder zu verfolgen, der sich als junge Frau entpuppt. Die wilde Jagd geht bis zur Notre-Dame, dort kommt es zum frühen und für Broyan durchaus verstörenden Showdown, den die unbekannte Täterin vermeintlich nicht überlebt (wir wissen es wieder besser).
Während Broyan beginnt, auch aus eigenem Interesse Nachforschungen in dem Mordfall anzustellen und dabei in okkulte Kreise gerät, wo man im Rahmen des Spiritismus eine Kommunikation mit den Toten anstrebt, sehen wir ihn auch regelmäßig in einer anderen für ihn ungewohnten Umgebung: er besucht Versammlungen der nationalistischen und extremistischen „Liga der Patrioten“. Dort hetzt man gegen die Regierung und die Demokratie, plant massive Protest-Aktionen – und vielleicht auch mehr. Dort ist Broyan als Ex-Polizist mit Insiderwissen ein gern gesehener Gast. Doch auch der Tod seiner Tochter Florine (der in „Herbst an der Bucht der Somme“, dem ersten Fall von Broyan, behandelt wurde) lässt ihn nicht los, weshalb er immer wieder das Vergessen in einer Opiumhöhle sucht…
Dankbarerweise legt Autor Philippe Pelaez seinen zweiten Fall mit Amaury Broyan ganz anders an. Hier wird der Täter/die Täterin nicht erst am Schluss enthüllt. Hier wissen wir schon bald, wer Tréveaux ermordet hat, auch welchen Hintergrund die Tat umgibt, wird vergleichsweise schnell klar, dank des Spürsinns von Broyan. Und der Band wird bald zu einer einzigen, großen Verbeugung vor Gaston Leroux‘ Schauer-Klassiker „Phantom der Oper“. Wie hier spielt auch der Roman in der Opera Garnier, bzw. darunter. Geheime Gänge und verborgene Orte spielen eine wichtige Rolle, wie auch Masken, wogende rote Umhänge und entstellte Protagonisten, von denen einer tatsächlich Éric heißt (Erik ist bekanntlich der Name des Phantoms).
Dazwischen kämpft Broyan mit seinen Dämonen – er kann den tragischen Tod seiner Tochter noch immer nicht verkraften, weshalb er auch an den damals populären Séancen, spiritistischen Sitzungen, teilnimmt, die gleichzeitig zu den fantastischen Komponenten gehören, die hier immer wieder thematisiert werden. Was dabei dem Wahn, der Einbildung oder dem (Opium-) Rausch der betreffenden Personen geschuldet ist oder nicht, bleibt Leserinnen und Lesern überlassen. Wir verfolgen tragische Schicksale, die auch im Wahnsinn enden können. Gegen Ende des Bandes werden Broyans Besuche bei und seine Sympathien für die „Liga der Patrioten“ aufgeklärt, was mit einem kleinen wie feinen Twist geschieht.
Alexis Chaberts opulenter Zeichenstil passt wieder bestens in die Zeit des Fin de Siècle. Seine Straßenszenen erinnern an zeitgenössische Gemälde, er weiß das Geschehen farbenfroh (in der Oper), düster (unter der Oper) oder dezent und atmosphärisch (die Winterlandschaften, das verschneite Paris) zu inszenieren (und wer findet die Verweise auf Hergés „Tim und Struppi„?). Dazu gesellen sich wieder originelle Panel- und Seiten-Kompositionen, wie die fast schon abstrakte Darstellung der Wohnung des Spiritisten Gabriel Delanne, übrigens eine historische Figur. Wobei wir natürlich das wieder wunderbare Jugendstil-Cover nicht vergessen dürfen. Die Herbst- und Winter- Fälle für Inspektor Broyan sind nun abgehakt. Hoffen wir, dass Pelaez und Chabert noch Sommer und Frühling nachlegen. (bw)
Winter in der Oper
Text & Story: Philippe Pelaez
Bilder: Alexis Chabert
72 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
19,80 Euro
ISBN: 978-3-98721-408-0