The Kissing Gate (Skinless Crow)

November 10, 2023
The Kissing Gate (Verlag Skinless Crow) von Aly Fell

Juni 1936 irgendwo im nordenglischen Yorkshire: die zwölfjährige Alice Eaton wird in den Ferien bei ihrer Tante Elspeth untergebracht. Oder besser: abgeschoben. Denn die Eltern planen ohne ihr Kind eine große Reise, die sich jedoch als verhängnisvoll erweist. Nun ist Alice allein, ihre leicht verschrobene und unnahbare Tante wird ihr Vormund, deren altehrwürdiges und mitunter unheimliches Landhaus namens „The Grange“ ihr neues Heim. Alice fühlt sich einsam, zieht sich zurück, liest viel. Was sich erst wieder ändert, als sie Sophie kennenlernt. Sophie ist etwa im gleichen Alter und schnell werden die beiden unzertrennlich, erkunden das Haus, den Garten und die Umgebung. Eine unbeschwerte Zeit für Alice, die sich erstmals geschätzt fühlt. Und doch scheint Sophie ein Geheimnis zu umwehen. Hat der von ihr gefürchtete, grobschlächtige Hausmeister und Gärtner Sikes, der in der Nähe wohnt, etwas damit zu tun?

Der Band (übrigens der mit Abstand dünnste, der bisher bei Skinless Crow erscheint, dafür auch der großformatigste) trägt den Untertitel „Eine Geistergeschichte“ und spätestens ab der Mitte der Erzählung ahnt man, wie der Hase läuft – was es also mit dem Titel auf sich hat. Was jedoch nicht weiter tragisch ist, bleibt die Story doch spannend genug, um dieses letztendlich gelöste Rätsel (es wird nicht das letzte sein) tragen zu können. Unangefochtene Hauptperson des Bandes ist Alice, die aus einer einleitenden und beschließenden Rahmenhandlung heraus, die 1957 spielt, rückblickend als Ich-Erzählerin ihre Geschichte ausbreitet, jenen einschneidenden Sommer, der von den Begegnungen und der Zeit mit Sophie geprägt ist. Der Band ist in Schwarz-Weiß gehalten, wird aber in der Schlüsselsequenz, wo sich die Realität aufzulösen scheint, für einige Seiten farbig.

„The Kissing Gate“ ist erst die dritte Comic-Arbeit von Aly Fell, der im englischen Manchester lebt und der bereits lange Jahre als Animator in der Trickfilm- und Games-Branche tätig war. Zuvor erschien bei Dark Horse „The Shadow Glass“ (2016) und zuletzt – wie auch dieser Band mit einer Kickstarter Kampagne finanziert – „A Trick of the Light“ (2021). Was uns endlich zu den Zeichnungen bringt. Denn die sind schlichtweg sensationell. Äußerst elegant, betörend, fließend wie sanft und dabei über die Maßen realistisch, ohne jedoch steif zu wirken. Seien es Details der zeitgenössischen Autos, des großen, verwinkelten Herrenhauses und seiner Räume, die Blätter der Bäume, der üppige Garten oder Landschaftsideale als Doppelseite (inkl. Glenfinnan Viadukt, das wir aus Harry Potter kennen). Hier stimmt alles – auch die Figuren und deren Gesichter, die voller Nuancen und nicht minder starken Details stecken.

Stark sind auch die Themen, die mit der Geschichte behandelt werden. Einsamkeit, Unglücklichsein, resultierend aus fehlender Liebe. Zuerst sind Alices Eltern nicht gerade fürsorglich, ihre Mutter sogar gefühlskalt, dann ist die Tante ständig anderweitig beschäftigt – und das große unübersichtliche Haus vermittelt auch nicht gerade Nestwärme. Die Alice dann bei Sophie findet, welche ihr stets ihre uneingeschränkte, ewige Freundschaft verspricht. Dass sich Alice in Sikes, der eine schwere Bürde trägt, gehörig getäuscht hat, muss sie sich und ihm Jahre später eingestehen. Auch die Texte des Bandes punkten: Alice‘ erzählte Erinnerungen ihrer prägenden Coming-of Age-Episode stecken voller Melancholie, sind bittersüß und warmherzig. Auch in der Erkenntnis, dass Kindheit und Jugend irgendwann endgültig vorüber sind. Hoffen wir, dass wir in Zukunft noch mehr von Aly Fell lesen und sehen werden. Das Album ist auf 444 Exemplare limitiert. (bw)

The Kissing Gate
Text & Bilder: Aly Fell
64 Seiten in Schwarz-Weiß und Farbe, Hardcover
Skinless Crow
24,50 Euro

ISBN: 978-3-03963-015-8

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