Wahlkampf kann ganz schön gefährlich sein. Das hat Senator Turley am eigenen Leib erfahren, als es bei einer Veranstaltung zwei Maskierte auf ihn abgesehen hatten, die im letzten Moment vom FBI ausgeschaltet werden konnten. Der neue Rorschach, der Jahrzehnte nach der apokalyptischen (von Ozymandias natürlich nur inszenierten) Tintenfisch-Invasion plötzlich auf den Plan tritt, und seine Begleiterin „The Kid“ werden zwar als die junge Laura Cummings und der alternde Comiczeichner Myerson identifiziert, aber die Fragen nach dem Warum bleiben offen. Um das herauszufinden, setzt der fanatische Turley, der den elenden linksliberalen Dauerpräsidenten Redford nach vier Amtszeiten endlich ablösen will, einen Ermittler ein – immerhin ist er überzeugt, dass Redford hinter dem Attentat steckt, der dank der Stimmen des Wahlkreises Vietnam nahezu unangreifbar ist.
In einem Sanatorium nimmt der Schnüffler die Spur auf und trifft zunächst einen Hünen, der als „Muscles der Muskelberg“ gemeinsam mit „The Kid“ auf dem Jahrmarkt auftrat und dort von ihr überzeugt wurde, dass der allmächtige Dr. Manhattan die Seelen der alten Helden seinerzeit in andere Körper versetzt habe, weshalb er eigenmächtig eine Mordserie der Selbstjustiz anzettelte. Diese Spur führt insofern kaum weiter, und auch die permanente Einmischung Turleys, der seine Verschwörungstheorien (Redford will ihm ans Leben, ist unamerikanisch und verrät sein Vaterland) lauthals verkündet, helfen da nicht weiter – zumal Turley als Soldat in Vietnam selbst ruppige Bekanntschaft mit dem Comedian machte, der die Drecksarbeit erledigte, während Nixon best buddies mit Dr. Manhattan spielte. Über dunkle Kanäle bekommt der Ermittler schließlich den Briefwechsel zwischen Laura und Myerson in die Finger, aus dem hervorgeht, wie die beiden verlorenen Seelen in die radikale Ecke abdrifteten und schließlich gemeinsame Sache machten. So kommt der Ermittler der Wahrheit immer näher, während der Wahlkampf zwischen Turley und Redford immer intensiver wird…
Wir sehen betroffen; den Vorhang zu und alle Fragen offen: dieses Motto des literarischen Quartetts stand am Ende von Folge 1 der furiosen eigenen Interpretation, die Starautor Tom King einem der zwielichtigsten Charaktere aus dem Watchmen-Universum angedeihen lässt. Angesiedelt 30 Jahre nach dem Ende von Alan Moores epochalem Werk und zeitlich verortet noch vor der nicht unbedingt erforderlichen Fernseh-Serie, liefert King hier einen gnadenlos destruktiven Polit-Noir-Thriller: der Ermittler steht im Spannungsfeld zwischen Wahrheit und politischem Auftrag und erinnert immer wieder an die finsteren Schnüffler Sam Spade und Philip Marlowe. Die erbitterte Auseinandersetzung zwischen dem liberalen Redford (am Ende von Watchmen schon als neue Präsidentenhoffnung angedeutet), der sich nur durch die „Überseegebiete“ in Vietnam an der Macht hält, und den selbsternannten wahren Amerikanern rund um den Republikaner Turley spiegelt nur wenig kaschiert die Slogans der Trump-Ära.
Der Fokus liegt hier hauptsächlich am dem Innenleben der Personen – von der verwirrten Psyche von Muscles über die zerstörte Kindheit von Laura, die von ihrem Vater fanatisch auf einen weiteren „Tintenfischangriff“ gedrillt wurde, bis hin zum Zeichner Myerson, der im „Citizen“ die Vorlage zu Rorschach zu liefern scheint (der ja seinerseits an „The Question“ angelehnt war). Zeichnerisch von Jorge Fornés sehr episch ausgebreitet, im zweiten Abschnitt parallel im Rückblick des auch optisch umgesetzten Briefwechsels, bietet dieser Band nur eine kurze Atempause, bis wir hier dringend weiterschauen müssen – immerhin ist die Serie ja seit einer Weile schon vollständig zu haben. Die auf 555 Exemplare limitierte Variant-Cover-Edition (Abbildung links) ist dagegen restlos vergriffen. (hb)
Rorschach, Band 2
Text & Story: Tom King
Bilder: Jorge Fornés
76 Seiten in Farbe, Hardcover
Panini Comics
15 Euro
ISBN: 978-3-7416-2452-0
