Schöne neue Welt (Knesebeck)

August 22, 2022

Gemeinschaft – Identität – Stabilität! So lebt es sich in der in der Tat schönen neuen Welt im Jahre 632 nach Ford, dem großen Vorbild. Menschen werden nicht mehr geboren (das ist ja ekelerregend), sondern in Brutstätten als „genormte Männer und Frauen in einheitlichen Chargen“ gezüchtet. Damit alles seine Ordnung hat, werden die Sprösslinge „prädestiniert und konditioniert“, also so indoktriniert, dass sie später in ihrer Kaste funktionieren: von Alpha Plus-Wesen, die die Anführer stellen, bis hin zu niedrigen Arbeitern ist alles vertreten und geregelt. Die Bevölkerung hat Ruhe zu bewahren und zu konsumieren, um die Wirtschaft in Schwung zu halten. Kunst und Kultur sind abgeschafft, Geschichte ist „Humbug“, persönliche Beziehungen sind ersetzt durch permanente Promiskuität – „Jeder gehört jedem“, wie man das salopp nennt, „keiner ist alleine“.

Und wenn sich doch einmal eine Spur Nachdenken oder gar schlechte Stimmung einschleicht, wirft man sich einfach eine Ration Soma ein, eine Droge, die alles wieder einrenkt und dabei noch nicht einmal einen Kater verursacht („wie Christentum und Alkohol, aber ohne ihre Mängel“). Alles wunderbar, und dennoch gibt es Abweichler, wie etwa den Alpha Bernard Marx, bei dessen „Dekantierung“ irgendwas schiefgegangen sein muss: in der Freizeit geht er nur widerwillig den üblichen Orgien nach und konsumiert kaum Soma, was seinem Vorgesetzten gar nicht gefällt, der dieses Verhalten als „höchst unorthodox und unfordhaft“ empfindet. Auch Lenina Crowne (attraktiv, weil höchst „pneumatisch“) passt nicht ganz ins Schema und stimmt daher Bernards Vorschlag zu, als Urlaub in New Mexico ein Reservat zu besuchen, in dem man Wilde bestaunen kann, die noch nach der alten, abstoßenden Weise dahinvegetieren: es gibt dauerhafte Beziehungen zwischen Mann und Frau, Kinder werden ausgetragen und sogar gestillt, man huldigt Göttern, wird alt, hässlich und stirbt sogar eines natürlichen Todes.

Als Bernard und Lenina diesem Treiben mit wohligem Schauer zusehen, machen sie eine erstaunliche Begegnung: eine alte Dame, die mit ihrem Sohn in den Slums lebt, behauptet standhaft, sie komme auch aus der Außenwelt, sei auf einer ähnlichen Besuchsreise verloren gegangen und lebe seitdem mit ihrem Sohn John Savage im Reservat, immer in der Hoffnung, doch noch gefunden zu werden. Bernard wittert seine Chance, erkennt er in dieser Geschichte doch die Erzählungen seines Chefs wieder, der offenbar seine Begleitung vor Jahren im Reservat zurückließ. Geschickt fädelt Bernard seine Intrige ein: er nimmt John und Linda mit zurück in die Außenwelt und konfrontiert seinen Chef mit seiner Vergangenheit, der komplett diskreditiert ist. Während Bernard durch seine „Entdeckung“ zu Ruhm gelangt, gleitet Linda in den Drogenrausch ab – und John zeigt sich zunehmend befremdet von seiner neuen Umgebung…

Aldous Huxleys Roman „Brave New World”, erschienen 1932, ist die große „andere“ Dystopie: zusammen mit George Orwells „1984“ bildet Huxleys finstere Vision die zentrale Anti-Utopie des 20. Jahrhunderts. Rechnete Orwell noch relativ eindeutig mit den kommunistischen Regimes seiner Zeit ab, spannte Huxley den Bogen allerdings noch viel weiter. Wie in jeder Utopie geht es weniger um die eher sparsame Handlung, sondern eher um ein Zukunftsbild, das aktuelle Tendenzen fortschreibt und in ein Extrem führt, ummantelt von einem Reisemotiv, in dem Außenseiter jeweils in eine fremde Welt eintauchen. Eine blinde Industriebegeisterung setzt Huxley dabei mit Henry Ford gleich, der gottgleich verehrt als große Inspiration und Messias-Figur den Beginn der neuen Zeitrechnung bildet. Die beginnenden Versuche in sozialer Konditionierung, Genetik und Schlaflehre führt Huxley hin zur ausnahmslosen Retortenzüchtung von Menschen, die nicht denken, sondern konsumieren sollen und durch Sex und scheinbar unschädlichen Drogen ruhiggestellt sind.

Entstanden ist dieser neue Weltstaat aus den Ruinen einer massiven Wirtschaftskrise und folgender Kriege, in denen jegliche humanistische Bildung verboten wurde und nur noch das für die Erledigung der täglichen Arbeiten nötige Wissen geduldet wird. Alle Bücher, die älter als 150 Jahre sind, sind verboten, nicht zuletzt ein gewisser Shakespeare – was John Savage, den sprichwörtlichen „edlen Wilden“, zum ultimativen Kontrapunkt macht: immerhin hat John als Junge eine alte Ausgabe des Barden gefunden und diese eingehend studiert, wodurch sein ganzes Weltbild und auch seine Sprache geprägt wurden. Nicht umsonst entstammt auch der Romantitel selbst dem Spätwerk „The Tempest“, wo Prosperos Tochter Miranda anfänglich begeistert über die Neuankömmlinge auf der Insel ausruft: „O, wonder! How many goodly creatures are there here! How beauteous mankind is! O brave new world, That has such people in’t!”, worauf ihr Vater, der seine alten Widersacher nur zu gut kennt, sie rüde zurechtweist – schon bei Shakespeare ist der Begriff der schönen neuen Welt also zutiefst ironisch zu verstehen.

Bei Huxley steht die durchgängige Shakespeare-Kontext sowohl stellvertretend für die verbotene Kultur, gleichzeitig aber auch für die Vitalität und Emotion, die den Bewohnern des Weltstaats aberzogen wird, um Stabilität und Wohlstand zu gewährleisten. Fred Fordhams (kann dieser Name Zufall sein?) Adaption greift sich wirkungsvoll die zentralen Szenen aus Huxleys Roman heraus und arbeitet in großen, knallig bunten Panels vor allem die permanente, künstlich herbeigeführte Glückseligkeit heraus, die in einem Mix aus Drogen und Konsum zu oberflächlicher Freude führt. Optisch teilweise angelehnt an Moebius, ruft Fordham auch filmische Antiutopien wie George Lucas‘ Frühwerk „THX 1138“ auf, die ihrerseits Motive aus Huxleys Werk aufnehmen.

Zeitgemäß und damit dringend geboten ist die Adaption dabei in jedem Falle: gesellen sich mittlerweile neben die üblichen, immerwährend relevanten Aspekte wie Konsumwahn, Sozialkonditionierung und totalitärer Überwachung im sogenannten „sozialen Diskurs“ immer dreistere Ansätze, diejenigen Teile der Geschichte und Kultur, die nicht ins eigene, durchaus eng gefasste Weltbild passen, umzudeuten oder auszulöschen – Markennamen, Straßenbezeichnungen und vermeintlich nicht mehr politisch korrekte Literatur inklusive. Erledigte das bei Orwell noch Winston Smith, der beruflich die Geschichte umschreiben musste, lässt Huxley in der Jesus-Figur des John Savage gleich die gewaltige Stimme von Shakespeare selbst auf eine Herrschaftsform prallen, die jegliche allzu bewegende Emotion, vielleicht sogar Kontraste und Unbequemlichkeiten auslöscht und eine „Kampagne gegen die Vergangenheit“ führt. Und das ist, wie man über Dystopien gerne sagt, „beklemmend aktuell“. (hb)

Schöne neue Welt
Text: Fred Fordham, nach Aldous Huxley
Bilder: Fred Fordham
240 Seiten in Farbe, Hardcover
Knesebeck Verlag
28 Euro

ISBN: 978-3-95728-578-2

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