Antananarivo (Splitter)

Juni 28, 2022
Antananarivo (Splitter Verlag)

Irgendwo auf dem Land in Frankreich. Amédée und Jo, Nachbarn und beide schon betagte Rentner, sind seit Jahren befreundet. Und völlig unterschiedliche Charaktere. Jo ist unkonventionell, ein offenherziger Lebemann und Weltreisender, der überall etliche Abenteuer erlebt hat. Und Amédée, ehemaliger Notar, lebt seinen Ruhestand routiniert und langweilig. Wie auch die Frau an seiner Seite. Nur die packenden Erzählungen Jos, denen er so gerne lauscht, bringen Abwechslung und zumindest einen temporären Hauch von Abenteuer in sein Leben. Der sofort wieder verschwindet, wenn er wieder vor seiner Haustüre steht. Dann stirbt Jo. Plötzlich und unerwartet. Und der Rentner Amédée stellt sich einer neuen Herausforderung: Da Jo angeblich einen Sohn hat, versucht Amédée, den verschollenen Sprössling aufzutreiben, damit dieser Jos Erbe antreten kann. Keine leichte Aufgabe, auch angesichts des vermeintlich wilden Lebens Jos…

Man ist nie zu alt, um über sich hinauszuwachsen: Zuerst ist Amédée tief betroffen über den Tod seines Freundes. Dessen Lebens-Erinnerungen und Anekdoten (Antananarivo ist die Hauptstadt Madagaskars), die er wieder und wieder so gerne hörte, fehlen ihm nicht minder. Doch dann packt ihn der Ehrgeiz. Er setzt sich in den Kopf, den Sohn zu finden, was in eine kleine Odyssee im Nordosten Frankreichs mündet. Die bestreitet Amédée in einem betagten Triumph Spitfire MK3, das letzte Symbol seiner durchaus lebendigen Vergangenheit und gleichzeitig ein erstes Aufbegehren gegen Norm und Langeweile. Ehe ihn andauernde Rückenschmerzen und hypochondrische Anwandlungen plagten. Schönes Stilmittel: Auf seiner Reise wird Amédée von Jo Harvey-mäßig begleitet, als imaginärer Beistand, der immer wieder lockere Sprüche und nonchalante Kommentare beisteuert. Visuell unterlegt sind die Trips dazu mit virtuellen exotischen Tieren aus Jos Erzählungen, die die französischen Landschaften bevölkern.

Amédée erlebt auf seiner Suche witzig-skurrile Episoden, wie der „Polizei-Besuch“ bei einer alten Dame, oder auch durchaus heikle Momente, wie in einem Nachtclub oder bei ehemaligen Fremdenlegionären. Aber oft unterstützt und ermutigt vom imaginären Jo lässt er nicht locker, entwickelt ungeahnte Talente und entdeckt so sein Selbstbewusstsein wieder. So ist der Band inhaltlich stets unterhaltsam, abwechslungsreich, witzig, überraschend und auch melancholisch. Quasi ein spätes Coming-of-Age eines Rentners. Während Autor Mark Eacersall bei uns noch nicht in Erscheinung trat, ist der Zeichner des Bandes kein Unbekannter: Sylvain Vallée prägte bereits mit seinem runden, fast funny-artigen Strich Reihen mit ernsten Themen wie „Es war einmal in Frankreich“ oder zuletzt „Katanga“, ebenfalls bei Splitter erschienen.

In der Physiognomie seiner beiden Hauptdarsteller lässt Vallée deren Charakter widerspiegeln. Jo ist groß, schlank, selbstbewusst, elegant und weltgewandt, während Amédée klein und rundlich erscheint, samt Knubbelnase, zögerlich und in einer regelrechten Stasis zufriedener Unzufriedenheit versunken. Man gewöhnt sich eben an alles. In den Gesichtszügen seiner Figuren trumpft Vallée groß auf. Nuancenreich ist vor allem Amédées Mimik, die gerne auch in Panelsequenzen stets gekonnt und präzise die Gefühlswelt des ehemaligen Notars abbildet, ob Freude, Trauer, Melancholie, Wut und Zorn oder Entschlossenheit. Ein schöner Band – auch für Freunde der „Alten Knacker“ – voller feiner franko-belgischer Comickunst. (bw)

Antananarivo
Text: Mark Eacersall
Zeichnungen: Sylvain Vallée
136 Seiten, Hardcover
Splitter Verlag
29,80Euro

ISBN: 978-3-96792-286-8

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