Das Gutachten (Carlsen)

April 22, 2022
Das Gutachten (Carlsen Comics), von Jennifer Daniel

Bonn im Sommer des Jahres 1977. Herr Martin führt ein bürgerliches Leben. Er arbeitet an der Uni im Institut für Rechtsmedizin als Fotoassistent, ist verheiratet und hat einen Sohn, der gerade seinen Führerschein macht. Herr Martin ist in seinem Job stets korrekt und zuverlässig. Einzig: Nachts wird er von seinen traumatischen Kriegserlebnissen eingeholt. Die Folge: er trinkt immer wieder und im Prinzip zu viel. Szenenwechsel zu Miriam Becker und ihrem kleinen Sohn Marek. Miriam und ihre Freunde sympathisieren mit der RAF, fordern die Freilassung der inhaftierten RAF-Mitglieder. Um dem Nachdruck zu verleihen, planen sie während des anstehenden Kanzlerfestes öffentlichkeitswirksam ein Transparent zu platzieren. Als Herr Martin gemeinsam mit einem Kollegen nach einem durchzechten Abend, dem des Kanzlerfestes, volltrunken in sein Auto steigt und losfährt, kommt es zu einer fatalen Begegnung mit Miriam…

Teils Krimi, teils zeitgenössisches Gesellschaftsbild, mit viel jüngerer deutscher Geschichte und durchaus aktuellen Bezügen – Autorin und Zeichnerin Jennifer Daniel, die bereits Titel im Jaja-Verlag veröffentlichte, packt so einiges in ihre neue Graphic Novel. Da ist die Krimihandlung, die erst klar scheint und dann doch eine überraschende Wendung erfährt: Herr Martin vertieft sich nach dem tragischen Ereignis geduldig in akribische Kriminalarbeit, fast wie Heinz Rühmann in Dürenmatts „Es geschah am hellichten Tag“. Martin war Soldat im Zweiten Weltkrieg, ein Veteran mit gestohlener Jugend, an deren Stelle grausame Kriegserinnerungen stehen, die er nicht verarbeiten kann, aber auch nicht mit anderen teilt. Auch der Alkohol hilft da nicht. Dann der Blick auf die junge Generation: Während Martin auf Pflichtbewusstsein und die Verteidigung des Vaterlandes plädiert, erwägt sein Sohn den Wehrdienst zu verweigern. Und die junge RAF-Sympathisantin Miriam, die die letztendlich klägliche Transparent-Aktion nur noch halbherzig unterstützt, am Vorabend des berühmt berüchtigten Deutschen Herbstes.

Wir begegnen den Großkopferten, noch im Gestrigen verhaftet, denen Ansehen über alles geht und die das Auto als der Deutschen liebstes Kind und die „Freiheit“ beim Fahren rühmen, was ja – Stichwort Tempolimit – noch immer gilt und gerade wieder aktuell ist. Tragödien und Schuld werden als Kavaliersdelikt abgetan und „weggelacht“, Hauptsache der Ruf und die weiße Weste bleiben intakt. Aber bricht Herr Martin dennoch aus seiner ihm zugedachten Rolle und damit aus seinem Alltag aus, mit allen Konsequenzen? Die stilisierten bunten Zeichnungen, voller Orts- und Sachkenntnis (Jennifer Daniels stammt aus Bonn und nutzte Motive aus alten Fotos ihres Großvaters für Ihre Graphic Novel) erinnern im Stil an die Bände von Alexandre Clérisse („Ein diabolischer Sommer“, „Ein Jahr ohne Cthulhu“) fungieren auch als gelungenes Stilmittel zur Handlung. Bei wichtigen Dialogen oder Zwiegesprächen bleibt der Hintergrund beispielsweise weiß – die Personen stehen im Mittelpunkt. Nachtszenen oder Panorama-Panels sind farblich intensiver dargestellt, stets mit einem sicheren Blick für notwendige Details. (bw)

Das Gutachten
Text & Bilder: Jennifer Daniel
208 Seiten in Farbe, Hardcover
Carlsen Verlag
25 Euro

ISBN: 978-3-551-78170-3

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