Irgendwo in den weiten Wäldern des russischen Winters, irgendwann während des Ersten Weltkriegs. Ein arg gebeuteltes und versprengtes Häuflein russischer Soldaten sucht Unterschlupf und Wärme in einem einsam gelegenen Gutshaus. Nach einer ersten unangenehmen Überraschung werden sie von der Baronin Alexandrowna aufgenommen und verköstigt. Zu dem Soldaten-Trupp gehören auch ein Arzt und dessen beide Kinder Natalja und Irina. Während sich Leutnant Kuljakow und Hauptmann Svoga über die Führung des Trupps und die Dauer ihres Aufenthaltes uneins sind, macht Natalja, die ältere der beiden Schwestern, Bekanntschaft mit einer Gruppe Kinder, die von der Baronin aufgenommen wurde und die sich in dem Gebäude versteckt. Was offenbar nicht die einzige Überraschung ist, die das weitläufige Gutshaus zu bieten hat…
Es ist eine interessante, vielfältige und überraschende Mischung, die der produktive Autor Denis-Pierre Filippi (zuletzt bei Splitter mit „Terra Prohibita“ vertreten) hier in seiner Story anrührt und die die Erwartungshaltung des Lesers gerne auf den Kopf stellt. Da ist einmal das Kriegsszenario und die Notlage der Soldaten – verletzt, ohne Verpflegung und Transportmittel, dazu die ständigen Reibereien zwischen Kuljakow und Svoga. Der eine drängt pflichtbewusst auf den Aufbruch, der andere erweist sich als skrupellos. Dann das Gutshaus. Kein unheimliches Spukhaus mit finsteren Räumen und knarzenden Böden. Vielmehr muten die zahlreichen Geheimgänge, die das Gebäude durchziehen und die die versteckten Kinder benutzen, wie auch deren Unterschlupf, eher wie ein riesiger Spielplatz an. Ganz im Gegensatz zur grausamen Kriegsrealität außerhalb der Mauern wie innerhalb der Gruppe Soldaten. Auch bei der Baronin, der Hausherrin, greift kein vermeintliches Klischee. Sie präsentiert sich gütig und freundlich. Dennoch birgt das Haus offenbar mehr als es den Anschein hat – hier nur ein dezenter Hinweis auf den Titel…
Und: wer jetzt das Cover des Bandes aufmerksam studiert, dem wird auffallen, dass in der obigen Inhaltsbeschreibung etwas vermeintlich Wichtiges fehlt. Etwas, das auf den ersten Blick so gar nicht in die Handlung passen mag. Tatsächlich tritt dieser erstaunliche „Perspektivwechsel“ in Form von Fantasy-Elementen bisher nur vereinzelt auf und auch lediglich visuell, weshalb dessen Bedeutung nur angedeutet wird – bisher ohne jegliche Erklärung – und im Folgeband, der den Zweiteiler gleichzeitig abschließen wird, sicher noch zur Sprache kommt (Band 2 ist gerade bei Glénat in Frankreich erschienen).
Überraschend sind die Bilder von Gaspard Yvan, der mit einem reifen, eigenen Stil daherkommt, was umso erstaunlicher ist, da der Zweiteiler sein erstes Werk als allein verantwortlicher Zeichner darstellt. Und was einmal mehr zeigt, wie viele Talente in der franko-belgischen Comicszene schlummern. Zuvor trat Yvan als Kolorist in Erscheinung, u.a. für „Eine außergewöhnliche Reise“, erschienen im Splitter Label toonfish und ebenfalls von Filippi geschrieben. Yvans Zeichnungen sind weich, elegant und stimmig mit dezenten winterlichen, blassen Farben versehen. Ein Band voller Geheimnisse, in der Tat bei einigen Motiven angelehnt an Guillermo del Toros „Pans Labyrinth“, wie vom Verlag beworben, aber dennoch in jeder Beziehung eigenständig. Für den abschließenden Band 2 versprechen wir uns da noch einiges. (bw)
Der letzte Schatten, 1. Kapitel
Text: Denis-Pierre Filippi
Bilder: Gaspard Yvan
48 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
16 Euro
ISBN: 978-3-96792-184-7