Indien, 1928. Gemeinsam mit ihrer Tochter Emy reist Amelia Harryson zu ihrem Mann Thomas in das koloniale Indien. Der ist, genau wie sein Vater, dort als britischer Offizier stationiert. In dem ihr völlig fremden Land lernt sie den Hauslehrer Kenneth Lowther kennen, Thomas‘ besten Freund, sowie den Maharadscha von Kalapur, Dharma Singh. Während Thomas ganz britisch unterkühlt und eher pflichtbewusst die Ehe mit Amelia führt – man siezt sich –, wird Lowther zu ihrem väterlichen Freund, der die exotischen Sitten und Gebräuche der fremden Kultur schätzt, annimmt und seine Homosexualität nicht verbirgt. Bald beginnt Amelia mit Dharma Singh wider besseres Wissens eine leidenschaftliche Affäre, die nach kurzer Zeit in einer Katastrophe mündet, welche das Leben aller Beteiligten und deren Familien nachhaltig verändern und prägen sollte. Und das über Generationen hinweg.
Denn Jahre später, 1944, während eines Bombenalarms wird Emy, Amelias inzwischen erwachsene Tochter, in London von ihrer Vergangenheit eingeholt. Zuerst erhält sie per Post das Tagebuch ihrer Mutter, dann wird sie von Jarawal aufgesucht, dem Sohn Dharma Singhs. Aber auch unbekannte Häscher heften sich an Emys Fersen. Ihre Wohnung wird durchsucht. Offenbar beinhaltet das Tagebuch brisante Informationen, die in die tragische Vergangenheit und damit in die Jugend Emys reichen. Doch die beiden wichtigsten Seiten des Tagebuchs fehlen. Gemeinsam reisen Emy und Jarawal nach Indien, um Kenneth Lowther aufzusuchen. Doch auch sie schaffen es nur teilweise, die damaligen Ereignisse zu entschlüsseln. Erst eine weitere Generation später soll das Emys Tochter Kamala gelingen. Inzwischen schreiben wir das Jahr 1965. Indien ist Hippie-Land, die Macht der Maharadschas ist am Vergehen. Auch Jarawal, obschon politisch aktiv, ist ein verarmter Herrscher. Und alleine. Denn damals verließ Emy ihn und heiratete später Kenneth Lowther. Nach dessen Tod begegnen sich die beiden wieder, während Kamala sich auf die Spuren ihrer Großmutter Amelia begibt und gemeinsam mit ihrem Freund Jay die Hintergründe der Familientragödie aufdeckt.
Bei ihrer Indien-Saga lassen sich Maryse und Jean-Francois Charles („Die Pioniere der neuen Welt“) von Klassikern wie David Leans „Reise nach Indien“ und Fritz Langs Indien-Zweiteiler „Das indische Grabmal“/„Tiger von Eschnapur“ inspirieren (aufmerksame Betrachter entdecken im ersten Teil auch eine Hommage an den Regisseur; und einer der unbekannten Hintermänner erinnert verdächtig an Claude Rains in „Lawrence von Arabien“). Amelia kommt als Fremde ins Land und muss nicht nur mit der Hitze, sondern auch mit dem Kulturschock kämpfen. Kenneth Lowther dagegen fühlt sich pudelwohl, er hat die fremde Kultur angenommen und wird auch dadurch zum Außenseiter, der Sympathien für die Einheimischen entwickelt und der – anders als die „verdammten Besatzer“, wie der stocksteife Thomas – von der üblichen aristokratischen Haltung Abstand nimmt. Dharma Singh verkörpert Reichtum, Exotik und das Geheimnisvolle. Mit seinem einnehmenden Wesen betört er Amelia, was schließlich zu Katastrophe führt, die die folgenden Generationen ausbaden müssen. Was vordergründig als Beziehungsdrama dargestellt wird, erweist sich nach und nach als politische, manipulative Verschwörung, die bis in das Jahr 1965 und damit Kamalas Generation reicht.
Und ganz nebenbei begeben wir uns während der Story auf einen Landes-Trip, der an alle Sehnsuchts-Orte führt, die der typische Indien-Tourist abklappern muss. Von Bombay geht es nach Benares, Goa, Kaschmir, in den Himalaya nach Ladakh oder in das bengalische Darjeeling und auch das berühmte Taj Mahal kommt zu Ehren. Es wird viel Kolonial-Romantik geboten. Die Paläste und Landschaften des exotischen Indiens sind der nicht ganz so heimliche Star. Dazu gesellt sich immer wieder eine Prise Mystik, eben wenn Emy angebliche Avataras der Götter sieht oder ein Unbekannter mit vermeintlich übersinnlichen Gaben über ihr Geschick wacht. Trotz der gebotenen Exotik und Erotik verkommt die Geschichte nicht zur Klischee-Schmonzette, was einmal an den Geschehnissen von 1928 liegt, die über die Jahrzehnte nach und nach aufgeklärt werden wollen und zum anderen gibt es immer wieder Ausflüge in die Politik und damit in die Geschichte Indiens, von der britischen Kolonialherrschaft bis zu den ersten Schritten in die Unabhängigkeit.
Maryse und Jean-Francois Charles präsentieren hier eine epische Geschichte über drei Generationen, deren vier Alben des ersten Zyklus‘ bei Splitter in einem prächtigen Sammelband zusammengefasst sind. Nicht zum ersten Mal übrigens – bereits 2009 brachte der Verlag die Story als Splitter Book im kleinen Graphic Novel Umfang. Das größere, mächtigere Albumformat kommt natürlich in erster Linie den Zeichnungen zu Gute. Denn die sind – heute durchaus eine Seltenheit – direkt koloriert (Couleur Directe, wie das beispielsweise auch Hermann oder Grzegorz Rosinski virtuos beherrschen), und dies sehr einfühlsam und stimmig, was das ohnehin Malerische der Landschaften und Bauten noch einmal unterstützt und die exotische Atmosphäre, in der die Geschichte meist spielt, betont – kein Wunder, recherchierte das Ehepaar Charles doch auch vor Ort. Gleichzeitig mit diesem Band erscheint ein zweiter Zyklus, diesmal als Deutsche Erstveröffentlichung. Auch dazu in Kürze mehr. (bw)
India Dreams: Erster Zyklus
Text: Maryse Charles
Bilder: Jean-François Charles
208 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
39,80 Euro
ISBN: 978-3-96219-234-1