Essai (Carlsen)

Oktober 7, 2016

Essai (Carlsen)

„Wenn einer allein träumt, ist es nur ein Traum. Wenn viele gemeinsam träumen, ist es der Anfang einer neuen Wirklichkeit…“ Beseelt von dieser Überzeugung, macht sich Fortuné Henry im Jahr 1903 daran, in den Ardennen seine Utopie einer idealen Gesellschaft Wahrheit werden zu lassen. In einem Waldstück nahe dem Dorf Aiglemont haben seine Gefährten von der kommunistischen Bewegung ein wenig Land gekauft, auf dem Fortuné mit bloßen Händen eine Hütte baut und damit beginnt, den Boden zu beackern. Zuerst kritisch beäugt von den Dorfbewohnern, dann immer mehr bewundert, verfolgt Fortuné unbeirrbar sein Ziel: eine klassenlose, anarchistische Alternative zum vorherrschenden Regime der Unfreiheit und des Kapitalismus, in der alle willkommen sind. Gegen alle Unbill des rauen Winters, in dem der Frost regiert, errichtet die immer mehr anwachsende Gemeinschaft Häuser, Werkstätten und Ställe, legt Felder an und verkauft die Früchte der Arbeit in den umliegenden Ansiedlungen. Auch das persönliche Glück neigt sich Fortuné zu, als eine alleinerziehende Mutter aus Paris in der Gemeinschaft Zuflucht sucht vor der Gewalt, die sie erfahren hat, und sich Fortuné auch emotional annähert. Aber bald beginnt der Stern der Utopie zu sinken, und der unaufhaltsame Niedergang der glorreichen Idee nimmt seinen Lauf…

Für seinen ersten auch in Deutschland erscheinenden Comicroman greift der Franzose und Wahlkanadier Nicolas Debon auf historisch verbürgte Ereignisse zurück: die Gründung einer anarchistischen Gemeinschaft mit dem vielsagenden Namen Essai – zu Deutsch Versuch, Probe, Test – durch den Kommunisten Fortuné Henry ist in der Tat für das Jahr 1903 verbürgt und unter anderem in diversen Fotografien festgehalten, die der schön eingerichteten Ausgabe beigefügt sind. Henry stand dabei in guter Tradition, denn Utopien ähnlicher Art waren Ende des 19. Jahrhunderts durchaus en vogue: als Gegenreaktion auf Industrialisierung, Kapitalismus und Ausbeutung entstanden europaweit Bewegungen, die es sich zum Ziel setzten, ideale Gemeinschaften als Gegenentwurf zu schaffen und so zu beweisen, dass ein Zusammenleben in Freiheit und Gleichheit eben doch möglich ist. Diese so genannten „freien Welten“ hatten ihre intellektuelle Verwurzelungen nicht zuletzt in den Werken Henry David Thoreaus, dessen „Walden, or Life in the Woods“ schon 1854 den Ausstieg aus sozialen Zwängen zu Gunsten eines Lebens im Einklang mit der Natur proklamierte.

1902 gründete man sogar die „Gesellschaft für die Erschaffung und Entwicklung von freien Siedlungen in Frankreich“, die auf 250 Mitglieder kam. Fortunés Ansiedlung durchlief dabei einen bemerkenswerten Aufstieg vom Kuriosum bis hin zum Publikumsmagneten, der von Journalisten gefeiert und von der Allgemeinheit letztendlich doch verdammt wurde. Diese Geschichte einer zum Scheitern verurteilten Utopie inszeniert Debon in dem für ihn typischen Couleurs Directes-Stil (auch eingesetzt von Altmeister Hermann), also ohne korrigierenden Zwischenschritt am Computer oder Koloristen, wodurch wie in seinen Kinderbüchern eine gemäldehafte Atmosphäre entsteht, die in dominierenden Pastelltönen bisweilen an die Werke der Impressionisten erinnert. „Essai“ bietet damit ein nachdenkliches Portrait einer Epoche und wirft die immer noch aktuelle Frage auf, ob eine Utopie möglich ist oder nicht letzten Endes immer an der menschlichen Natur scheitern muss. (hb)

Essai
Text & Bilder: Nicolas Debon
96 Seiten in Farbe, Hardcover
Carlsen Verlag
19,99 Euro

ISBN: 978-3-551-72817-3

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