London um 1780. Die englischen Gefängnisse sind überfüllt. Der Hauptgrund dafür ist, dass Amerika als Strafkolonie nach der Unabhängigkeit der Neuenglandstaaten nicht mehr in Frage kommt. Eine Gefangenen-Deportation dorthin ist nicht mehr möglich. Als Provisorium müssen ausgediente Schiffsrümpfe herhalten, die in Ufernähe geparkt werden. Die Folge sind unmenschliche Zustände, selbst für die damalige Zeit. Da besinnt man sich auf das ferne Terra Australis Incognita als neues Ziel für die Häftlinge. Das ferne, noch weitgehend unbekannte Land im Süden, das Mega-Entdecker James Cook Jahre zuvor gesichtet hatte. Angenehmer Nebeneffekt für die englische Krone: man ‚entsorgt‘ nicht nur die Häftlinge, sondern gründet nebenbei auch mit der Landnahme eine neue Kolonie für das Empire. Im Mai 1787 stechen 11 Schiffe in See, um sich auf die beschwerliche Reise in die 24.000 km entfernte Botany Bay zu machen. An Bord 1300-1500 Menschen, die Mehrheit von ihnen Deportierte. Nach Versorgungsstopps auf Teneriffa, in Rio de Janeiro und am Kap der Guten Hoffnung treffen im Januar 1788 alle Schiffe unversehrt in der Botany Bay ein, nur um festzustellen, dass es dort weder geeigneten fruchtbaren Boden noch ausreichend Trinkwasser gibt. So entscheidet man sich weiter im Norden in Port Jackson die neue Siedlung aufzubauen und zu gründen, die bald den Namen Sydney trägt.
Soweit die nüchternen Fakten. Laurent-Frédéric Bollée (Deadline) und Philippe Nicloux füllen in ihrer gewaltigen Graphic Novel, deren Entstehen fünf ganze Jahre dauerte, diese Fakten mit Leben, indem sie exemplarisch das Schicksal historischer Personen schildern, die indirekt und natürlich direkt an dem Unternehmen beteiligt waren, das als First Fleet (erste Flotte) in die Geschichte einging. Dabei setzen sie ganz früh an und erzählen, wie der spätere Kolonialminister und Namenspate der neuen Kolonie Lord Sydney zu seinem Namen kam. Hier treffen wir auch erstmals auf James Smith, der Jahre später als einziger freiwilliger Zivilist an der Reise teilnehmen wird. In London begegnen wir John Hudson, einem Waisenkind, das auf der Straße lebt und beim Klauen erwischt wird. Mit 13 Jahren wird John der jüngste Gefangene auf der First Fleet sein. Das Kommando über das Unternehmen wird Kapitän Arthur Phillip übertragen, der zugleich auch der erste Gouverneur der neuen Kolonie werden wird. Phillips Karriere in der Britischen Marine verlief bisher eher unspektakulär. Und er ist nicht verheiratet, hat keine Familie. Kurz: er ist entbehrlich. Sollte das Unternehmen scheitern, er wäre kein großer Verlust. Entsprechend kümmert man sich auch vor der Abfahrt nicht groß um Phillips und die Flotte. Aus dem Augen, aus dem Sinn…
Die Reise an sich verläuft erstaunlich unspektakulär. Natürlich gibt es Verluste. Krankheiten, Unglücke und Skorbut fordern Opfer, Zwischenfälle passieren, aber auch Kinder werden geboren. Alles in allem gelingt die Überfahrt, jedes Schiff wird den neuen Kontinent erreichen. Wir sehen den jungen John Hudson wieder, der nicht weiß wie ihm geschieht und der sich inzwischen in die Obhut und den Schutz des riesigen, mürrischen ehemaligen Sklaven Caesar begeben hat. Und James Smith, der seine dröge Beamten-Stelle gekündigt hat und das große Abenteuer erhofft. Wir lernen den Schiffsarzt kennen, den unbeliebten Befehlshaber der Soldaten, einige Offiziere. Das entbehrungsreiche Leben an Bord und die gereifte Erkenntnis, dass die wenigsten Passagiere, seien es Besatzung oder Häftlinge, die Heimat je wiedersehen werden. Kapitän Arthur Phillip überrascht mit humanistischen, modernen Ansichten. Er möchte in Frieden mit den Ureinwohnern leben und bemüht sich, das Gute im Menschen zu sehen. Eine naive Vorstellung, wie sich später sehr schnell zeigen wird.
Denn nachdem die Pioniere wider Willen an ihrem Zielort ankommen, gibt es schnell nicht nur erste Kontakte mit den ‚ab origine‘ (lat. von Beginn an), sondern auch gleich erste Konflikte. Schwierig, denn die Kolonie, die sich bald noch ganz rudimentär im Aufbau befindet, leidet Hunger. Vorräte werden rationiert, Handel mit den Eingeborenen klappt nicht. Daher entschließt sich Gouverneur Phillip, zwei von ihnen zu entführen und ihnen Englisch beizubringen. Erzwungene Völkerverständigung. Einen davon namens Bennelong lernen wir bereits in der Einleitung bei einem Initiations-Ritus kennen. In Gefangenschaft muss er einer Hinrichtung beiwohnen. Verwirrt plagen ihn Visionen, in denen sogar die berühmte Oper von Sydney zu sehen ist, die sich einst an genau jenem Ort befinden wird. Bennelong wird später auch nach England reisen, teilweise die europäische Lebensart annehmen und bei seiner Rückkehr der erste entwurzelte Aborigine sein, der seine verlorene kulturelle Orientierung in Alkohol zu ertränken versucht. Als Menetekel, als Sinnbild für das Urvolk, von dem sich viele auch heute noch am Rande der australischen Gesellschaft befinden.
Wenn ein Autor einen 500-seitigen, in drei mächtige Kapitel eingeteilten Comic-Roman abliefert, dann sollte er was zu erzählen haben. Und das hat er. Viele Geschichten, Episoden, auch abseits der Haupthandlung. Überall merkt man, wie genau und akribisch Autor Laurent-Frédéric Bollée die Geschichte der First Fleet und darüber hinaus recherchiert hat. Mal sanft, mal spannend, immer kenntnisreich und in einer überaus angenehmen Sprache, bisweilen sogar poetisch. Lebendige Geschichte. Und Zeichner Philippe Nicloux bleibt bei seinen Gesichtern skizzenhaft aber ausdrucksstark, fast Graphic Novel-typisch, nur um dann mit ganzseitigen Panoramen zu verblüffen, sei es von London, den Schiffen oder vom australischen Busch und der ärmlichen Kolonie. Dabei gibt es wunderbare Übergänge zwischen den Szenen, so folgt beispielsweise die Perspektive ganz filmisch über mehrere wortlose Seiten hinweg einem Vogel, der zwei Szenen und Orte verbindet. Jedem Geschichts-Interessierten, der wissen will, „wie das denn damals war mit Australien“, sollte man ohne groß weitere Worte zu verlieren ein Exemplar des aktuellen Splitter-Ziegels in die Hand (nein, in die Hände – das Teil ist dick und schwer) drücken. Mehr braucht es nicht. Ein in jeder Hinsicht mächtiges Werk. (bw)
Terra Australis
Text: Laurent-Frédéric Bollée
Bilder: Philippe Nicloux
512 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
44,80 Euro
ISBN: 978-3-95839-229-8