Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, im Archipel der Salomonen in der Südsee. Heimat von David Grief: Unternehmer, Plantagenbesitzer. Selfmade-Man. Reich, erfolgsverwöhnt. Und furchtlos, ein echter, unkonventioneller Draufgänger, dem das Glück stets hold ist. Ein Sohn der Sonne. Wie andere Handelskapitäne der Salomonen ist er elektrisiert durch die Nachricht, dass der alte Parlay, selbsternannter König und Despot der Insel Hikihoho, seine Perlen verkaufen bzw. versteigern will. Perlen ohne Ende, die ein Vermögen wert sind. Grief und Parlay sind durch das Schicksal von Parlays Tochter verbunden. Die genoss in Europa eine vornehme Erziehung und fand bald nach ihrer Rückkehr ein tragisches Ende. Grief war in sie verliebt, wurde aber abgewiesen und ihr Vater verlor ob ihres Todes den Verstand. Nun treffen die Kapitäne und Kaufleute auf Hikihoho ein und bewundern die zahllosen Perlen. Ein Schatz. Begierden werden geweckt, alte Rivalitäten werden gepflegt. Und ein gigantischer Sturm zieht auf, ein Doppel-Orkan. Gier und die Elemente bestimmen nun das dramatische Schicksal der Akteure…
Ehe es zum finale furioso kommt, erleben wir, wie David Grief einige Episoden meistert. Er trickst einen Konkurrenten aus (mit einem alten Strandräuber-Trick), der ihm Geld schuldet. Auf der Insel Goboto (kurios: die Hosenpflicht), auf der besonders viel gesoffen wird, nimmt er im Kartenspiel einen weiteren aus. Dazwischen lernen wir die Geschichte Parlays und seiner Tochter kennen und erfahren, dass Griefs Schiffskaufmann Pankburn einst ein hoffnungsloser Säufer war, der von Grief letztendlich doch erfolgreich trockengelegt wurde. ‚Ein Sohn der Sonne‘ ist ein unbekannteres Werk von Jack London (Der Seewolf, Ruf der Wildnis, Wolfsblut), das aus acht Kurzgeschichten besteht, die 1911 in der Saturday Evening Post erstmals veröffentlicht wurden. Autor Fabien Nury, der bereits diverse hochkarätige Comics geschrieben hat, die auch bei uns erschienen sind (W.E.S.T., Es war einmal in Frankreich, Ich bin Legion), macht aus diesen losen Kurzgeschichten eine durchgehende Story, die gezielt auf einen Höhepunkt zusteuert. Dabei lässt er in seiner freien Adaption einige außer Acht oder erwähnt sie nur kurz.
So konzentriert sich die Handlung auf das Südsee-Abenteuer des charismatischen, erfolgsverwöhnten David Grief. Themen, die im Buch angesprochen werden oder der damaligen Zeit geschuldet selbstverständlich sind, wie Rassismus (inklusive entsprechender Begriffe) und Kolonialismus (ein Teil der Salomonen war damals noch deutsche Kolonie) werden ausgespart oder kurz angesprochen. Ansonsten dominieren die Weißen die Handlung (bis auf die Figur des eingeborenen Mapouhi, den Grief sogar als Freund bezeichnet). Sie machen Geschäfte, werden reich oder spielen sich als Könige auf. Man ist unter sich. Europäischer Lebensstil wird gepflegt, was bisweilen groteske Züge offenbart. Und Grief steht über alle dem. Er scheut nicht vor extremen Massnahmen, zeigt Härte oder Milde, je nachdem wie es die Situation erfordert. Immer sein Ziel vor Augen. Doch am Ende, als der gigantische Doppel-Orkan naht, wird auch er sich seiner Grenzen bewusst. Der Natur kann auch er sich nicht widersetzen. Oder etwa doch?
Zeichner Éric Henninot, u.a. bekannt durch ‚Carthago‘ und ‚Prophet‘ (beide ebenfalls bei Splitter), pflegt hier einen wunderbar klassischen franko-belgischen Realismus. Seine Schiffe schneiden elegant und detailliert durch die Wellen. Die Figuren sind markant in Szene gesetzt, die zeitgenössischen Darstellungen wirken genau recherchiert. Und die klare, stimmige Farbgebung tut ihr Übriges und betont die Tuschezeichnungen. Dazu kommt ein Hauch von Mystik, ohne jedoch verklärte Südseeromantik überzustrapazieren. Gemeinsam mit Nury macht Henninot durch seine freie Bearbeitung eines unbekannten London-Werkes, das nicht den Klassiker-Status anderer Werke von ihm besitzt, einen stimmigen, lesenswerten Comic-Roman, der in einem gewaltigen Höhepunkt kulminiert. (bw)
Ein Sohn der Sonne
Text: Fabien Nury, frei nach Jack London
Bilder: Éric Henninot
80 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
17,80 Euro
ISBN: 978-3-95839-237-3