Die Frau des Magiers (Splitter)

Dezember 22, 2015

Die Frau des Magiers (Splitter)

Saratoga Springs im Staat New York, 1956: die kleine Rita lebt mit ihrer Mutter, einer Haushälterin in einem mondänen Herrenhaus. Der Sohn der Hausherren ist Edmond, ein aufstrebender Zauberkünstler. Gemeinsam mit Ritas Mutter als Geliebte und Assistentin erobert Edmond in den Folgejahren die Bühnen der Welt. Aber je älter Rita wird, um so anziehender wird sie für ihn, und um so mehr vernachlässigt er deren Mutter, was sogar in Häme und Spott – auch auf der Bühne – endet. 1967 heiratet er Rita sogar, inzwischen seine alleinige Assistentin – eine Ehe, die unter keinem guten Stern zu stehen scheint. Ritas Mutter wacht weiter über ihre Tochter und misstraut den Absichten Edmonds – aus eigener, schmerzlicher Erfahrung. Als ihre Mutter im Hotelzimmer während eines Auftritts stirbt, gibt Rita dem herzenskalten Edmond eine Mitschuld, sagt sich von ihm los und verlässt ihn. Einige Zeit später finden wir Rita in New York wieder, wo sie als Bedienung in einem Diner arbeitet. Dort scheint sie etwas mit den brutalen Morden eines Serienkillers zu tun zu haben. Der leitende Polizist entlastet sie zwar, trotzdem fühlt sich Rita hier nicht mehr wohl. Sie beschließt zurück nach Saratoga zu gehen. Doch dort scheinen die Geister der Vergangenheit sie endgültig einzuholen…

Klingt alles soweit nach schlüssiger Story. Ist es aber nicht, sondern viel mehr. Die nüchterne Inhaltsangabe wird der Geschichte um Rita nicht gerecht. Denn Rita flüchtet sich von Kindheit an in Traumwelten, die langsam mit ihrem Älterwerden zu Alptraumwelten mutieren. Anfangs ist es noch ein kleines Wunderland mit sprechenden Tieren (ja, inklusive weiße Kaninchen), ein imaginärer Fluchtort, womöglich ausgelöst und gebildet durch den Tod ihres Vaters im Koreakrieg oder/und durch das verstörende Verhältnis zwischen Edmond und ihrer Mutter. Später, als sie erwachsen ist, halten Schrecken und Horror Einzug in ihre imaginäre Welt: Werwölfe, lebende Pferdekadaver. Ein schreckliches, pervertiertes Abbild der Welt der Erwachsenen. Überhaupt: mit dem Fortschritt der Geschichte vermischen sich immer mehr Realität und Fantasie, bis kein Unterschied mehr erkennbar wird, was nun noch real ist und was in der Vorstellung Ritas geschieht.

Das alte Cover (Dank an comicguide.de)

Das alte Cover (Dank an comicguide.de)

Die Übergänge werden fließend. Und verwirrender. Was hat es mit den grausamen Morden im Central Park auf sich? Spielt die Außenseiterin Rita wirklich keine Rolle dahin (vorher sehen wir sie bei einem Zaubertrick als Werwolf)? Auch die Figuren werden surrealer. Detective Verbone, der die Morde untersucht, erscheint eher wie ein Hercule Poirot als wie ein typischer amerikanischer Schnüffler. Dann, als Rita nach Saratoga in das Herrenhaus ihrer Kindheit zurück kehrt, wird die Handlung vollends bizarr. Holt Ritas Traumwelt die Realität ein? Was ist noch real – oder vielmehr: was war in der Vergangenheit überhaupt real? Rita scheint sich den Dämonen ihres Lebens zu erwehren. Zum Guten oder zum Bösen? Deutungen bleiben dem Leser überlassen, dem es schwer fällt, sich der surrealen Faszination von Handlung und Bilder zu entziehen.

Nach ihrem neuen Band ‚Little Tulip‘ bringt Splitter nun ein frühes Werk (das seinerzeit in Angoulême prämiert wurde) von François Boucq und Jerome Charyn (u.a. Marilyn the Wild) in einer Neuedition heraus. ‚Die Frau des Magiers‘ erschien erstmals 1988 in der Reihe ‚Schwermetall präsentiert‘ als Zweiteiler. Boucq, von dem in Zukunft noch mehr Bände bei Splitter erscheinen werden (über ‚Teufelsmaul‘ hier in Kürze mehr) zeichnete für die Neuausgabe ein neues Titelbild. Was zeigt, wie sich sein Stil über die Jahre ‚beruhigte‘ und glättete und sich v.a. wie bei seinem Western ‚Bouncer‘ ersichtlich, dem von Giraud annäherte. Hier ist er noch ungezügelter, roher – ein Strich der auch vor Häßlichkeiten nicht zurückscheut. Die stets bedrohliche, misstrauische, aber auch träumerische Atmosphäre unterstreicht er dabei mit tiefen, langen Korridoren (Shining!), hohen Treppenhäusern, dunklen Parks oder kalten Gebäuden. Was gleich geblieben ist, ist der Realismus in den Bildern, der entgegengesetzt zu den später alptraumhaften, irrealen Chimären Ritas wirkt. Dabei benutzt Boucq eine dezente, direkte Aquarell-Kolorierung, die jeglichen heutigen Computerfarben weit überlegen ist. Ein ungewöhnliches Album, beeindruckend in Wort, Bild und Story, für Comic-Fortgeschrittene und -Kenner. (bw)

Die Frau des Magiers
Text: Jerome Charyn
Bilder: Francois Boucq
88 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
18,80 Euro

ISBN: 978-3-95839-227-4

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