
Nordtaiwan, Region Hualien, 1945: die Alliierten nehmen das von den Japanern beherrschte Gebiet unter Beschuss. Die Familie des kleinen Oken flieht in die Berge, wo man die Kriegswirren erfolgreich übersteht und der einfühlsame Bub erstmals die Faszination der Natur kennenlernt. Nach der Rückkehr in die weitgehend zerstörten Städte lernt Oken bei einem Schnitzer, der meisterhaft Statuen für Tempel anfertigt, die Liebe zur bildenden Kunst als Ausdrucksform. Die neuen Herren vom Festland setzen Chinesisch als Amtssprache durch, was bei den eigentlich mit Japanisch großgewordenen Kindern für reichlich Verwirrung sorgt. Als drei Soldaten einen Hund töten, ist der empfindsame Oken direkt mit dem Tod konfrontiert und stellt fest, dass die Welt ebenso schön wie grausam ist, was langsam aber sicher den Dichter in ihm erweckt.
1949 rufen die Chinesen schließlich das Kriegsrecht aus, das 38 Jahre Bestand haben wird, und überziehen das Land mit anti-Japanischer Propaganda. Die Truppen der Kuomintang, der demokratisch-nationalen Partei Taiwans, ziehen sich nach dem verlorenen Bürgerkrieg gegen die Chinesen nach Taiwan zurück und etablieren ein repressives System, während die Amerikaner auf dem Inselstaat Truppen als Bollwerk gegen das kommunistische China stationieren. 1951 sucht dann ein massives Erdbeben die Insel heim, das Oken als Schüler nur knapp überlebt – er fühlt sich von den Naturgewalten inspiriert und stellt langsam fest, dass die Kunst durch Umgestaltung des Erlebten für ihn ein Mittel zur Selbstheilung und Erlösung darstellen kann. 30 Jahre später lebt Oken in Seattle, veröffentlicht unter seinem Künstlernamen Yang Mu erfolgreich Gedichte und nimmt einen Brief aus der Heimat zum Anlass, seinem Sohn eine ähnliche Erfahrung auf den Weg zu geben…
Mit dieser ausladenden Biographie adaptiert der Animationskünstler Wu Shih-hung das Romanwerk „Sturm in den Bergen, Regen über dem Meer“ des taiwanesischen Autors Yang Mu, der in diesen Kindheitserinnerungen seinen Weg zur Kunst schildert. In kraftvoll-bildhaften Szenen entfaltet sich dabei die Welt nach 1940 in den Augen eines Kindes, das die politischen Wirren nicht versteht, dafür aber immer die richtigen Fragen stellt: „Von klein auf haben mir alle gesagt, ich soll Japaner sein. Und jetzt soll ich auf einmal Chinese sein“. Im Holzschnitzer aus den Tempeln findet der kleine Oken einen einfühlsamen Lehrer, der ihm zeigt, wie Emotion in Expression münden kann: „In solchen Augenblicken fühlte ich mich wie ein Auserwählter, ein Priester, der verborgene Fingerzeige von den Göttern empfing und über eine übernatürliche Kraft verfügte. Ich konnte unmittelbar mit ihnen sprechen und ihnen vor allen anderen zu Willen sein.“
Dieses Konzept des Dichters als Götterboten und Propheten, durchaus in der literarischen Romantik verortet, erscheint allerdings stets geerdet und durch die Sicht eines Kindes auf die komplexe Welt niemals esoterisch. Für westliche Leser durchaus hilfreich ist der zusätzliche Fokus auf die historischen Ereignisse, die Shih-hung erst auf Anraten der Szenaristin Loo Hui Phang anbrachte, mit der er 2021 das Comicfestival Brüssel besuchte. So entfaltet sich der Reigen faszinierend, wodurch der Blick frei wird auf die collagenartige, expressive, oft symbolisch überhöhte Darstellung, die in aquarellhafter Ausführung das Innenleben des kleinen Oken zu beeindruckendem Leben erweckt. Damit ein spannender Einblick in die Geschichte Taiwans und seiner Literatur, die bei Chinabooks zu haben ist. (hb)
Oken
Text & Bilder: Wu Shih-hung, nach Yang Mu
208 Seiten in Farbe, Softcover
Chinabooks
29 Euro
ISBN: 978-3-03887-028-9