Literatur bildet. So viel bestätigen wir gerne. Zu viel Literatur kann aber auch auf Irrwege führen: Träumerei, Weltfremdheit und leichte Exzentrik, auch das kennen wir von so manchem Hochschulgelehrten. So weit wie der tattrige, verarmte Landedelmann Don Quijano allerdings kam bislang wohl noch keiner vom Weg ab: der spaßige Alte verschlingt Ritterromanzen am laufenden Band, bis er die Grenze zwischen Realität und überbordender Fiktion nicht mehr wahrnimmt. Er entwickelt die fixe Idee, selbst als fahrender Rittersmann über die Lande zu ziehen, und macht sich flugs mit seinem alten Klepper Rosinante auf den Weg. In einer Taverne trifft er auf den Barbier Meister Nicolas, dem er die Rasierschüssel entwendet, diese als Helm aufsetzt und sich im Dienste der holden Dulcinea (die eigentlich gar nicht so hold ist, auf einen gänzlich anderen Namen hört und die Dienste gar nicht so recht will) weiter auf seinen Kreuzzug ins Glück begibt.
In einem weiteren Gasthaus lässt er sich von amüsierten Zuschauern zum Ritter schlagen, nennt sich fortan obstinat Don Quijote von der Mancha und wird durch sein verwirrt-großspuriges Auftreten in diverse Schlägereien verwickelt, die dem alten Herrn gar nicht guttun. Einmal mehr im Straßengraben gelandet, findet ihn sein Nachbar, der Bauer Sancho Panza, den er nach einer kurzen Erholungsphase daheim als Knappe engagiert und dem örtlichen Pater, der es eigentlich nur gut mit ihm meint, wieder ausbüxt. Auf einer staubigen Ebene vermeint Don Quijote, angreifende Riesen zu erspähen, denen er sich furchtlos entgegenwirft – alle Versicherungen Sancho Panzas, es handele sich um schnöde Windmühlen, verhallen ungehört, und die Sache endet für den guten der Don wieder mit erheblichen Blessuren.
Nach weiteren „Abenteuern“, die die Runde machen, sorgt sich der Pater derart um sein Schäflein, dass er gemeinsam mit dem Barbier auf die Suche nach dem selbst erklärten Ritter geht. Man findet ihn auch tatsächlich, als er gerade einen Löwen aus einem Zirkus befreit und so den Zorn der fahrenden Truppe auf sich gezogen hat. Nachdem Don Qujote vorher noch einen Gefangenentransport der königlichen Polizeigarde gestört und den Sträflingen zur Flucht verholfen hat, heftet sich nun auch noch die Staatsgewalt an die Fersen des Tattergreises, dem gar nicht klar ist, in welcher Gefahr er schwebt…
Ritter von der traurigen Gestalt. Rosinante. Sancho Panza. Diese Konstellation kennt man, das gehört gleichsam zum Weltkulturerbe – was kein Wunder ist: immerhin lieferte Miguel de Cervantes 1605 mit seinem „El ingenioso hidalgo Don Quixote de la Mancha“ (von dem er 1615 noch einen zweiten Teil nachschob) eigenhändig den ersten modernen Roman überhaupt, der mit schöner Regelmäßigkeit auf den Listen der besten Bücher aller Zeiten landet und in die allgemeingültige Ikonografie der Kulturgeschichte eingegangen ist. Der „Kampf gegen Windmühlen“ wurde zum geflügelten Wort, zahllose Verfilmungen und Adaptionen verbreiten Cervantes‘ bitterböse Parodie eines literarischen Phänomens seiner Zeit: der Markt wurde um 1600 geradezu mit immer abstruseren Rittergeschichten geflutet, man spann immer fantastischere Geschichten rund um angebliche Heldentaten von fiktiven Figuren, aber auch den pseudohistorischen Charakteren wie König Artus.
Mit dem alten verwirrten Mann, der einer längst überkommenen und eigentlich nie real gewesenen, zutiefst romantisierten Darstellung von fahrenden Rittern, keuscher Minne, selbstlosen Heldentaten und dem Bändigen von Riesen, Hexen und Zauberern aufsitzt und sich dadurch permanent zum Gespött macht, liefert Cervantes in erster Linie eine Satire, die es an Gift und Galle mit dem quasi-Zeitgenossen Jonathan Swift durchaus aufnehmen kann. Dabei kreiert Cervantes (der in den durchaus zotigen Szenen auch auf Chaucers „Canterbury Tales“ zurückgriff) fast eigenhändig das Genre des Schelmenromans, in dem ein Picaro (spanisch für Gauner, daher eben auch pikaresk) allerlei bunte Episoden durchlebt, wie das in deutschen Landen zuvorderst dann rund siebzig Jahre später der „Simplicissimus“ des Herrn von Grimmelshausen (mit dem man uns im Deutsch-Leistungskurs malträtierte) zur Meisterschaft brachte.
Liegt dabei allerdings der Blick auf einer Kritik der Gesellschaft, verprügelt Cervantes seinen Anti-Helden nach allen Regeln der Kunst, um sich dergestalt über absurde literarische Moden zu amüsieren. Genau hier wählen die Brüder Paul und Gaëtan Brizzi einen etwas anderen Blickwinkel: anders als im düster-melancholischen Vorgängerwerk, einer Adaption von Dantes „Inferno“, betonen die beiden nach eigenen Worten hier zwar durchaus die Heiterkeit der Geschehnisse, die sich auch im cartoon-karikaturhaften, beschwingten Strich niederschlägt. Den Hauptcharakter allerdings sehen die Herren Brizzi durchaus weniger als beklagenswerten Narren, sondern eher als hoffnungslosen Romantiker, in dessen Augen die Welt ebenso ist, wie er sie sieht – weshalb die zentralen Szenen wie Angriff auf die Windmühlen in Farbe und in genau der Form erstrahlen, die Don Quijote sich zusammenfantasiert: wir erleben seinen heldenhaften Ansturm auf die Riesenarmee in mehreren, weitgehend dialoglosen, großformatig farbigen Seiten, bis dann die Sicht von Sancho Panza den armen, an einem Windmühlenflügel hängenden Alten wieder in skizzenhaftem Schwarz-Weiß erscheint.
Auch die Schönheit der Dulcinea (eigentlich eine hässliche Vettel), die stolze Trutzburg (eine verfallene Taverne) und Quijotes edle Stute (der Klepper Rosinante), all dies erscheint jeweils gedoppelt in der tristen Realität und in Quijotes Idealwelt – die, so beschleicht den Leser die Erkenntnis, doch eigentlich um einiges besser ist als die echte, was ja auch die Deutung der Romantiker um Heinrich Heine war. Dafür nutzen die Brizzis (ehrenhafte Leute, keine Frage) den Kunstgriff, das Geschehen nach Quijotes Tod vom Pater berichten zu lassen, der sich voller Respekt über den haltlosen Idealisten äußert, der einfach zu gut für diese Welt war. Somit erneut eine voluminöse, rundum ebenso unterhaltsame wie tiefschürfend-durchdachte Adaption eines Klassikers der Weltliteratur, wie ihn die Brizzis auch schon mit den „Tolldreisten Geschichten“ nach Balzac hinzauberten. Hoffen wir mal, dass sie weitermachen – der Fundus ist ja nahezu unerschöpflich. (hb)
Don Quijote von der Mancha
Text & Bilder: Gaëtan Brizzi, Paul Brizzi,
nach Miguel de Cervantes
200 Seiten in Schwarz-Weiß & Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
45 Euro
ISBN: 978-3-98721-381-6