Mord im Orient-Express (Carlsen)

Februar 9, 2024
Agatha Christie Classics: Mord im Orient-Express (Carlsen Verlag)

Zugreisen waren schon immer abenteuerlich, wenngleich nicht aus den gleichen Gründen wie heute. Das erfährt auch der belgische Meister der „kleinen grauen Zellen“ Hercule Poirot, als er 1937 in Istanbul den Orient-Express nach Calais besteigen will, nachdem ihm sein alter Bekannter Monsieur Bouc, Chef der Eisenbahnlinie, vollmundig eine Luxuspassage angeboten hat. Das gestaltet sich schwierig, der Zug ist wider Erwarten voll belegt, aber Poirot erhascht noch ein Plätzchen, indem er sich ein Schlafabteil teilt. Als sich der Zug in Bewegung setzt, studiert Poirot interessiert die höchst internationale Mischung aus Fahrgästen, die ihn alsbald mit seiner Eigenschaft als Spürnase konfrontiert: der durchaus unangenehme amerikanische Millionär Mr. Ratchett erhält in letzter Zeit vermehrt Drohbriefe und will Poirot zur Aufklärung engagieren.

Der lehnt dankend ab, aber die Bedenken ob seiner Sicherheit erweisen sich als äußerst begründet: als der Orient-Express nachts irgendwo hinter Belgrad in einer Schneewehe stecken bleibt, rumort es in den Abteilen. Poirot hört verdächtige Geräusche, kurze französische Ausrufe aus Ratchetts Abteil und sieht eine nicht erkennbare Dame in einem roten Kimono mit schwarzem Drachen über den Gang eilen. Kurz darauf stellt sich der Grund der Aufregung heraus – Ratchett wurde ermordet, auf eine durchaus rabiate und krude Art mit 12 Messerstichen. Bouc zeigt sich verzweifelt wegen des zu befürchtenden Skandals für seine Bahnlinie und bittet Poirot um Hilfe.

Nachdem keine Polizei vordringen kann und der Mörder noch im Zug sein muss, willigt Poirot ein. Nach und nach vernimmt der belgische Spürhund Fahrgäste und Schaffner und stößt dabei schnell auf einen erstaunlichen Hinweis: der angebliche amerikanische Müßiggänger Ratchett war in Wahrheit niemand anders als ein italienischer  Schwerverbrecher namens Cassetti, der im Jahr 1932 auf Long Island die kleine Daisy Armstrong entführte und ermordete, worauf die Mutter Daisys starb und der Vater sich aus Kummer umbrachte. Cassetti wurde – vermutlich von einem bestochenen Richter – freigesprochen, und nach und nach festigt sich bei Poirot die Erkenntnis, dass mehr oder weniger alle Passagiere im Zug auf die eine oder andere Art mit dieser Tragödie in Verbindung stehen…

Mit „Murder on the Orient Express”, erschienen am 01. Januar 1934 (in deutscher Ausgabe mit dem vielsagenden Titel „Die Frau im Kimono“), legte die Queen of Crime Agatha Christie den in der Nachwelt wohl bekanntesten Roman um den belgischen Gourmet-Ermittler Hercule Poirot (neben Strickliesel Miss Marple die „andere“ große Ermittler-Figur aus ihrer Feder) vor, was weniger mit dem literarischen Erfolg zusammenhängt, als vielmehr mit der Verfilmung von Sidney Lumet, der das Werk 1974 mit Albert Finney in der Hauptrolle und einem Who is Who der Kinowelt auf die Leinwand zauberte. Auch die Neuauflage unter der Ägide von Shakespeare-Veteran Kenneth Branagh schlug 2017 durchaus ein und führte zu einer kleinen Poirot-Reihe, die aktuell den „Tod auf dem Nil“ und das „Haunting in Venice“ umfasst.

Der Roman selbst griff seinerzeit auf reale Ereignisse zurück, die der Leserschaft noch in bester oder schauriger Erinnerung waren: die Geschichte der Entführung und Ermordung der kleinen Daisy Armstrong, die Dreh- und Angelpunkt des Geschehens ist, war eine kaum kaschierte Referenz auf die Entführung des Lindbergh-Babys, die erst zwei Jahre vor Veröffentlichung des Romans 1932 die Welt erschüttert hatte. Um diesen Grundkomplex herum webt Christie ihr übliches Netz von echten und falschen Hinweisen, den so genannten Red Herrings, die nicht nur die Autorin, sondern auch die Missetäter in der Geschichte selbst absichtlich einsetzen, um Poirot zu verwirren (was im Komödien-Klassiker „Eine Leiche zum Dessert“ trefflich parodiert wird) Film. Das moralisch durchaus ambivalente Ende wirft die Frage auf, ob eine offenkundige Ungerechtigkeit durch Selbstjustiz behoben werden darf – ein durchaus zeitloses Problem.

In der hier vorliegenden Umsetzung konzentriert Benjamin von Eckartsberg (bestens bekannt durch die „Gung-Ho“ Reihe mit Thomas von Kummant) den Roman auf seine zentralen Szenen, wobei vor allem die sukzessiven Verhöre der Passagiere den gebührenden Raum einnehmen. Poirot, der sich stets in der dritten Person bezeichnet, erscheint als leicht zynischer Menschenkenner, der am Ende feststellt, der Fall werde alle, mich eingeschlossen, noch lange belasten. Zeichner Chaiko (dahinter verbirgt sich Cai Feng aus Shanghai), mit dem Eckartsberg bereits Band 3-6 der „Chronik der Unsterblichen“ adaptierte, inszeniert das Geschehen im wunderbar traditionellen, franko-belgisch angehauchten Stil, der Poirot mitsamt seiner Leibesfülle und dem charakteristischen Schnauzer treffend ins Bild bringt und auch in den Szenen des eingeschneiten Zugs atmosphärisch zu überzeugen weiß. Somit eine gelungene Umsetzung, dem gerne noch weitere Stories folgen dürfen. Der Fundus ist ja wahrlich ausreichend. (hb)

Agatha Christie Classics: Mord im Orient-Express
Text & Story: Benjamin von Eckartsberg, nach Agatha Christie
Bilder: Chaiko
64 Seiten in Farbe, Hardcover
Carlsen Verlag
20 Euro

ISBN: 978-3-551-72890-6

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