Eine Weihnachtsgeschichte (Carlsen)

Dezember 22, 2023
Eine Weihnachtsgeschichte (Carlsen Verlag)

Weihnachtsgeschichte, Dickens, das kennt man: der alte Miesepeter Ebenezer Scrooge (Namensgeber des Enterichs, der hierzulande als Dagobert bekannt ist) bekommt am Weihnachtsabend Besuch. Erst beehrt ihn sein verblichener ehemaliger Geschäftspartner Marley, dann suchen ihn drei Geister heim, die ihm anhand der vergangenen, der diesjährigen und der (eventuell) künftigen Weihnacht plastisch vor Augen führen, wie einsam und elend er sich durch seinen Geiz und seine Menschenfeindlichkeit selbst gemacht hat. Scrooge erkennt seine Verirrung und mutiert zum Gönner seines Angestellten Bob Cratchit, dessen Sohn Tiny Tim er rettet, und nimmt endlich die Einladungen seines Neffens zu den alljährlichen Weihnachtsfeiern wahr.

So weit, so bekannt und herzerwärmend, das haben wir mehrfach gelesen, auch vorgelesen (sehr zu empfehlen, verfehlt die Wirkung nie!) und immer wieder in gelungenen Adaptionen genossen. Richtig Neues kommt dabei natürlich nie dazu, umdeuten kann man die Geschichte ja kaum – oder doch? José Luis Munuera gelingt tatsächlich das Kunststück, eine Fassung nach den Motiven von Charles Dickens zu liefern, diese aber um spannende Facetten zu erweitern und zu verändern. Denn Scrooge heißt hier nicht Ebenezer, sondern Elizabeth, hasst Weihnachten und alle Gefühlsduselei genauso wie ihr Vorläufer, bietet aber im Gegensatz zur Figur bei Dickens nicht nur der Welt, sondern auch den Geister frech die Stirn.

Während der gute alte Ebenezer nach anfänglichem Spott schnell vor Angst bibbert, begibt sich die knallharte Geschäftsfrau Elizabeth pointiert selbstbewusst und schaut sich die ganze Chose recht lange gelassen an – von der vergangenen über die diesjährige Weihnacht findet sie keineswegs irgendeinen Anlass, sich zu ändern: immerhin war der Vater ein misogyner Zyniker, der seine Enttäuschung über das Scheitern seiner Ehe an seiner kleinen Tochter ausließ. Der alte Fezziwig, dem sie bei den Bilanzen half, erweist sich als schlicht und ergreifend unfähig, der Verlobte, der sie verlässt, ist mehr oder weniger ein Waschlappen – „ich bin ein praktischer Mensch“, betont sie immer wieder, und wenn sie das zur „Hassfigur“ macht, dann soll das eben so sein.

Selbst als sie der Geist der künftigen Weihnacht auf den Friedhof führt, zeigt sie sich weitgehend unbeeindruckt: „Ihr seid so naiv wie diese Leute hier“, spottet sie und weiß sofort, an welches Grab der Geist sie führt: „Vorhersehbarer geht es wohl nicht?“. Dass Tiny Tim die kommende Weihnacht nicht erleben soll, das allerdings ist dann auch für Frau Scrooge zu viel. Aber anstelle Reue und Einsicht zu zeigen, zürnt sie gegen die höheren Mächte: „Euer Gott ist ein Psychopath!“, schmettert sie dem letzten Geist entgegen, „Ich fordere Euch Geister heraus und Euren Gott!“ In diesem Geiste beginnt sie, der Familie von Cratchit zu helfen, die heimliche Gönnerin von Tiny Tim zu werden und sich der Familie ihres Neffens zu öffnen – per Truthahn, den sie selbst nicht zu bereiten kann…

Munuera geht bei seiner Neuinterpretation des Dickens-Klassikers gleich zwei neue Wege: die tatkräftige Geschäftstüchtigkeit der Frau Scrooge setzt er bewusst als feministischen Kontrapunkt gegen die starren Geschlechterrollen des viktorianischen Zeitalters, die Elizabeths Vater (fast schon allzu klischeehaft) verkörpert, was die gute Dame der Ehefrau ihres Neffen Frederike deutlich macht: es gibt zwei Rollen, die sie spielen kann, entweder die fügsame Frau, die brav zu Hause werkelt, oder die der revolutionären, selbstbestimmten Unternehmerin, die gesellschaftlich aneckt, aber zumindest ihren eigenen Weg geht – was sie bis ans Ende immer wieder so tun würde: „Mein Vergehen war, ehrgeizig zu sein… Der Ehrgeiz einer Frau bringt ihr Missgunst ein, denn die Frau hat sich zu fügen. … Ich mag die, die ich bin, ich mag mich so, wie ich bin. Nein, Geist, ich will mich nicht ändern!“

Spannender scheint allerdings der metaphysische Aspekt, den Munuera aufruft: welche Vorsehung lässt Tod und Elend zu, auch wenn für eine Nacht alles wunderbar in Butter zu sein scheint? Gegen dieses wohlfeile System läuft die Dame dann, ganz faustisch-prometheisch, famos Sturm und setzt sich damit fulminant durch: Elizabeth spendet, aber nur gegen Quittung, damit sie die Zuwendung vollumfänglich von der Steuer absetzen kann (so muss das!). Sie kümmert sich um Tim, aber im Hintergrund, sie schmiedet eine Frauenallianz mit Frederike, verbiegt sich aber in keiner Weise vor dem überkommenen Moralbild.

So entsteht eine Zwischenlösung, die für beide Seiten letztlich ein Gewinn ist: „Falls jemand meine Meinung wissen will: ich denke, Scrooge hat Gott und die Geister herausgefordert und geschlagen. Und haben in gewisser Weise auch über Scrooge gesiegt.“ Neben diesen intellektuell-metaphysischen Höhenflügen bietet diese Neuinterpretation aber auch einen optischen Hochgenuss: düstere Ansichten des verqualmten Londoner Himmels wechseln mit suggestiven Einzelszenen und einer Geisterwelt, die vor allem in der schattenhaften Gestalt des letzten Geistes veritablen Horror-Flair versprüht.

Mit diesem wunderbar frischen Band bleibt auch dem Team vom Comicleser keine andere Wahl, als trotz aller Irrungen, Wirrungen, Betrübnisse und Bedrohungen, derer offenkundig kein Ende zu sein scheint, gemeinsam mit Ebenezer, Elizabeth, Bob Cratchit, dem Grinch und allen anderen ein beherztes „Merry Christmas everyone!“ zu rufen – denn Friede auf Erden könnte man wahrlich brauchen. (hb)

Eine Weihnachtsgeschichte
Text & Bilder: José Luis Munuera, nach Charles Dickens
80 Seiten, Hardcover
Carlsen Verlag
24 Euro

ISBN: 978-3-551-77128-5

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