Bartleby, der Schreiber (Splitter)

März 21, 2022

New York, Wall Street: ein kleines Notariat, das sich auf das Kopieren von Urkunden, Hypotheken und Wertpapieren spezialisiert hat. Als die Arbeit sich anhäuft, stellt der Notar einen jungen Mann ein, der die Angestellten Turkey, Nipper und den Laufburschen Ginger Nut unterstützen soll. Bartleby, so stellt sich der Neue vor, arbeitet emsig, genau und vollkommen wortkarg in einer kleinen Ecke im Büro, deren Fenster direkt auf die Mauer des Gebäudes gegenüber schaut. Als es allerdings an das „Kollationieren“, also das gemeinsame Korrekturlesen von vier Ausfertigungen einer Urkunde geht, verweigert sich Bartleby mit den lakonischen Worten: „Ich möchte das lieber nicht“. Verwundert lässt der Chef dies nochmal durchgehen, aber Bartlebys Ablehnung aller Tätigkeit schreitet fort: ob er nun zur Post gehen, andere Schreibarbeiten oder ganz triviale Aufgaben übernehmen soll – stets quittiert er dies mit seinem „Ich möchte das lieber nicht“.

Bald stellt der Notar fest, dass Bartleby sogar in der Kanzlei wohnt und das Büro niemals verlässt. Anstelle den untätigen Mitarbeiter einfach hinauszuwerfen, zieht es der Chef vor, seine gesamte Kanzlei in ein anderes Büro umzuziehen und Bartleby in den leeren Räumlichkeiten zurückzulassen. Diese Lösung ist allerdings kurzlebig, da die Nachmieter sich umgehend über den seltsamen jungen Mann beschweren, der sich weigert, das Büro zu verlassen. Als das nichts fruchtet, ziehen die neuen Bewohner andere Saiten auf und übergeben Bartleby wegen Hausfriedensbruchs der Polizei. Im Gefängnis, wo ihn sein alter Chef besucht, setzt Bartleby seine vollständige Verweigerungshaltung bis zur letzten, bitteren Konsequenz fort…

Mit „Bartleby the Scrivener“ legte Herman Melville 1853 sein zweites Werk nach dem monumentalen Epos „Moby Dick“ vor. Zu Lebzeiten ebenso verkannt wie sein Hauptoeuvre um den weißen Wal, avancierte die Kurzgeschichte um den widerspenstigen Schreiber in der späteren Betrachtung zu einem der am meisten gelesenen und vielfach verschieden interpretierten Stücke des Autors. Im Zentrum steht die Figur des seltsam vergangenheitslosen jungen Bartleby, den der Ich-Erzähler eingangs als „ausdruckslos sauber, erbarmungswürdig achtbar, hoffnungslos einsam“ beschreibt. Bartleby ist damit der typische Jedermann, der eigentlich als Rädchen im System, stellvertretend hier im Tempel der modernen Finanzwirtschaft Wall Street, funktionieren sollte, dies aber ohne Angabe von Gründen ablehnt, wobei er im Original dabei stets wiederkehrend „I would prefer not to“ vorbringt.

Die Kollegen, die dem Ich-Erzähler permanent zu viel Nachsicht vorwerfen, stellen am Ende folgerichtigerweise fest: „Das störende Element wurde entfernt“. Die auf den ersten Blick naheliegende Interpretation, Melville trage hier eine Kritik des entmenschlichten Kapitalismus vor (eine allzu wohlfeile Auslegung, die sich das links intellektuelle Publikum inklusive der Occupy-Bewegung gerne zu eigen machte, was auch im Vorwort des hier vorliegenden Bandes mitschwingt), springt freilich viel zu kurz. Weiter greift hier der geistesgeschichtliche Kontext, in dem Melvilles Erzählung mit der Philosophie der amerikanischen Transzendentalisten um Ralph Waldo Emerson in Verbindung zu bringen ist, die der zunehmenden Rationalisierung, Materialismus und Zersplitterung der Moderne die Selbstbestimmtheit und Freiheit des Individuums gegenüberstellte, was Henry Thoreau in seinem „Walden“-Experiment des konsequenten Naturlebens auf die Spitze trieb (und was dann ein gewisser John Keating seinen begeisterten Schülern aus dem Club der toten Dichter äußerst lebendig nahebrachte – „I went to the woods because I wished to live deliberately“).

Bartleby setzt der Arbeitsteilung und Vereinzelung des modernen Lebens, das den ländlichen Familienverbund (mit allen Nachteilen der sozialen Kontrolle, wohlgemerkt) kennzeichnete, eine radikale Selbstbestimmung entgegen, die zunehmend auch seinen Chef fasziniert: immer mehr entwickelt der Ich-Erzähler Verständnis und Schuldgefühle, die aus einer diffus christlichen Haltung entspringen, aber auch in die Richtung gedeutet werden können, dass Bartleby in Wahrheit ein Alter Ego des Erzählers selbst ist, der bezeichnenderweise am Ende selbst feststellt, er würde das gerade lieber nicht tun. Somit entsteht eine in der bitteren Konsequenz der Titelfigur kafkaeske Groteske, die wie jedes ordentliche Kunstwerk mannigfaltig lesbar ist, als Bürokratiekritik, philosophischer Ausflug oder gar Selbstbildnis des vom Misserfolg seiner Werke zutiefst enttäuschten Schriftstellers Melville.

In seiner Graphic Novel setzt José Luis Munuera (u.a. „Spirou und Fantasio“, „Zyklotrop“) die Hauptelemente der Erzählung beeindruckend um: New York erscheint als gigantische Szenerie, in denen sich die Einzelschicksale abspielen, auf dem Broadway hört der Ich-Erzähler Redner, die seine Situation spiegeln, und vor allem die Gefängnisszenen erzeugen eine klaustrophobische Stimmung par excellence. Dass das Gefängnis in der Erzählung „The Tombs“ heißt und Bartleby vor seiner Anstellung in der Kanzlei symbolischerweise in einem „Dead Letter Office“, einem Büro für nicht zustellbare Briefe, gearbeitet hat, spart Munuera aus und lässt dabei umso mehr Deutungsspielraum, was der eindrucksvollen Umsetzung nur noch mehr Dringlichkeit und Denkanstoß verleiht. (hb)

Bartleby, der Schreiber
Text: José Luis Munuera, nach Herman Melville
Bilder: José Luis Munuera
72 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
18 Euro

ISBN: 978-3-96792-168-7

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