Beatrice (Splitter)

Oktober 20, 2023
Beatrice (Splitter Verlag) von Joris Mertens

Eine Großstadt, womöglich Brüssel, im Jahr 1972. Beatrice ist alleinstehend und kinderlos. Sie arbeitet als Verkäuferin in einem der großen und mondänen Konsumtempel in der Innenstadt, wohin sie täglich per Zug pendelt. Am Bahnhof wird sie auf eine vermeintlich herrenlose rote Tasche aufmerksam. Als diese am nächsten Tag immer noch dort steht, fasst sie einen spontanen Entschluss und nimmt die Tasche an sich. Zu ihrem Erstaunen befindet sich darin nur eine Sache, nämlich ein altes Fotoalbum mit Schwarz-Weiß Bildern. Diese datieren von den ausgehenden goldenen Zwanziger Jahren und zeigen ein offenbar glückliches junges, namenloses Paar. Beatrice wird neugierig und sucht nach und nach die Orte auf, an denen die Bilder entstanden sind, wobei sie diverse Überraschungen erlebt, gute wie schlechte…

Anders als „Das große Los“ ist das Erstlingswerk des Belgiers Joris Mertens (Jahrgang 1968, macht aber erst seit 4 Jahren Comics) ein stummer Comic, ein Band der ganz ohne Worte auskommt. Keine Sprechblasen, keine Textkästchen. Stattdessen lässt Mertens ausschließlich seine Bilder sprechen. Und natürlich: seine Farben. Er zeichnet einerseits sehr genau – Beatrice mit all ihren Gesichtsausdrücken, die ihre komplette Gefühlspalette widerspiegeln. Andererseits bleibt er bei seinen Hintergründen und den Personen, die dort zu sehen sind, skizzenhaft. Diese Panels werden durch die herausragende, atmosphärische Farbgebung erst veredelt, vor allem in Abend- oder Regen-Szenen. Ähnlich wie in „Das große Los“ dominieren dann gerne kräftige dunkle Farben das Geschehen, hier in erster Linie rot – die einzige Farbe, die Beatrice trägt, auch in der Arbeit.

Und wieder bewundern wir erneut großzügige Panels mit dem Gewimmel, dem geschäftigen Treiben auf den Straßen der Großstadt. Die allgegenwärtigen Reklameschilder und –tafeln, die das Stadtbild mitbestimmen. Verkehrschaos, Menschenmassen. Und darin das Gesicht in der Menge: Beatrice, die offenbar ein ruhiges, geregeltes und zufriedenes Leben führt. Sie drängt sich nicht in den Vordergrund – was schon das Cover zeigt. Sie liest gerne, geht in Cafés, stets alleine, wobei sie nie einsam erscheint. Von den Fotos des unbekannten Paares in dem Album (aus dem Jahr 1929, denn im Kino läuft „Tagebuch einer Verlorenen“ mit Stilikone Louise Brooks) lässt sie sich neugierig wie bereitwillig vereinnahmen. Dann werden die Bilder Schwarz-Weiß (und nicht minder beeindruckend), wobei Beatrices Fantasie und die Realität verschwimmen. Sie taucht in ein anderes Leben ein, eines, das sie sich insgeheim vielleicht schon immer erträumt hat. Aber Träume sind halt nicht für immer. Und über das anrührende, bittersüße Ende, das vielleicht einen Zyklus in Gang setzt, verraten wir sicher nichts. (bw)

Beatrice
Text & Bilder: Joris Mertens
112 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
25 Euro

ISBN: 978-3-98721-143-0

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