Das große Los (Splitter)

Juni 16, 2023
Das große Los (Splitter Verlag)

Schon seit etlichen Jahren arbeitet François in den Straßen einer Großstadt. Sein Job: für eine Reinigung und Wäscherei die sauberen Klamotten den Kunden wieder anzuliefern. Er gilt als bester Fahrer der Firma und erledigt seine Arbeit – stets im Anzug – verlässlich und gewissenhaft. François steht kurz vor dem Ruhestand. Er ist alleinstehend und hätte gerne die längst fällige Gehaltserhöhung. Sein Traum: ein Lottogewinn. Die Realität ist aber eher trist. Er pendelt zwischen Wohnung, Arbeitsplatz und seiner Stammkneipe, dem Café Monico. Dann stellt ihm seine Chefin auch noch deren Neffen Alain zur Seite, den François einarbeiten soll, wobei sich Alain weder geistig noch fahrerisch als große Leuchte entpuppt. Doch dann, mit einem Mal, könnte sich für François alles ändern…

Die Story: gemächlich. Zumindest anfangs. Lange und ausgedehnt begleiten wir François und seinen neuen Adlatus Alain bei ihren alltäglichen Ausliefer-Fahrten durch und vor die Stadt. Zu mondänen Hotels, wie zu wohlhabenden Privatkunden. Eine Welt, die die beiden nur als Lieferanten betreten können. Dazwischen immer wieder François‘ Besuche im Café Monico. Dort trifft er die Kioskverkäuferin Maryvonne, mit der er freundschaftlich verbunden ist. Man plaudert ungezwungen, träumt vom großen Lottogewinn. François ist ein netter Kerl, der von allen gemocht wird. Und doch erscheint er uns einsam. Im letzten Teil des Bandes kommt die Handlung dann massiv in Fahrt, praktisch aus heiterem Himmel. Eine Chance bietet sich François, die er instinktiv ergreift. Mit allen Folgen.

Abseits der in Kapitel unterteilten Story müssen wir hier vor allem über eines reden: die Zeichnungen. Oder besser die Farben. Oder beides. Denn der belgische Autor und Zeichner Joris Mertens ist ein visueller Künstler, der lange für den Film tätig war und dort Storyboards verfasste. „Das große Los“ (im Original „Nettoyage à sec“ – Chemische Reinigung) ist erst seine zweite Arbeit im Bereich der Comics. Der von der Filmsprache beeinflusste visuelle Erzählstil lässt sich überall im Band ausmachen. Ob Zwiegespräche im Auto oder in Kneipen mit identischen Panelfolgen aus immer gleicher Perspektive, oder Totalen, halb-, ganz- oder gar doppelseitig, die unvermittelt in die Geschichte eingebunden werden und diese unterbrechen, um Atmosphäre zu erzeugen– immer schimmern filmische Stilmittel durch.

Die Lichter der Großstadt (Panel-Ausschnitt)

Ein weiterer optischer Clou von Mertens: es regnet. Und zwar immer. Von der ersten bis zur letzten Seite findet die Handlung in strömendem Regen und unter einem finsteren Himmel statt (und offenbar im Jahre 1976, da sich François im Kino „Taxi Driver“ anschaut – wobei die Stadt anonym bleibt). Und quasi als Running Gag wird François ständig durchnässt, weil er permanent seinen Regenschirm vergisst. Der Regen, bzw. die regennassen Straßen, aber auch die in der Stadt allgegenwärtigen Leucht- und Neonreklamen sind dann auch in erster Linie die Quelle der überbordenden Farbenpracht, mit der Mertens hier beeindruckt und die der Tristesse der Stadt und des Wetters entgegenwirkt.

Zusammen mit dem skizzenhaften, kräftigen Strich formen die opulenten Farben eine urbane Melange voller Atmosphäre. Die Spiegelungen der Rücklichter auf dem nassen Kopfsteinpflaster, das fantastische Farbenspiel allgemein, lassen das Wäschereiauto immer wieder mit dem hektischen Großstadtverkehr verschmelzen, nur um es dann wieder darin auftauchen zu lassen. Vor allem in den zahlreichen Totalen und etlichen Sequenzen, die ganz ohne Sprechblasen auskommen, entfaltet sich so eine Pracht für das Auge. Trotz all dieser optischen Finessen verliert Mertens die Handlung, die im letzten Teil rasant an Fahrt aufnimmt und in einem – natürlich verregneten – Wald spielt, nie aus den Augen, bis hin zum Finale und einem bitter-ironischen Nachschlag. Einige Skizzenseiten beenden den Band. Mertens Erstlingswerk „Beatrice“ erscheint übrigens im September. (bw)

Das große Los
Text & Bilder: Joris Mertens
144 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
35 Euro

ISBN: 978-3-98721-142-3

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