Tolldreiste Geschichten (Splitter)

Juli 20, 2023
Tolldreiste Geschichten (Splitter Verlag), von Paul & Gaëtan Brizzi, nach Honoré de Balzac

„Drolatiques“, so heißen diese Erzählungen im französischen Original, lustig, spaßig, ergötzlich, drollig – und vor allem durchaus deftig, wie man das früher ja gerne bezeichnete. Aus den insgesamt 30 kurzen Geschichten, die Honoré de Balzac unter diesem Titel versammelte, wählen die Brüder Paul und Gaëtan Brizzi für ihre Umsetzung vier aus, die in unterschiedlichen Facetten die Balzacschen Hauptmotive bestens spiegeln.

In „Die Schöne Imperia“ verfällt der junge Mönch Philippe de Mala, der im Jahr 1414 zum Konzil von Konstanz anreist, den Reizen einer bezaubernden Dame, der er auf Drängen eines dubiosen Kupplers, unschwer zu erkennen als der Leibhaftige selbst, in ihr Haus folgt. Imperia, so nennt sich die Hübsche, lädt ihn ein, sie doch auch am folgenden Abend zu besuchen – mit einem netten Geschenk in der Hand, wie ihn der Kuppler bescheiden anweist. Trotz entsetzter Warnung seines Gastgebers gibt Philippe das Geld, das er eigentlich in ein festliches Gewand stecken wollte, für eine Juwelenkette aus, die er Imperia schenkt. Philippe staunt nicht schlecht, als sich nach und nach diverse Kirchenmänner ein Stelldichein geben und auch die Dienste der Imperia in Anspruch nehmen wollen: der Bischof von Chur tischt ein wahres Festmahl auf, und schließlich verlang der Kardinal Ragula selbst durchaus rabiat die Zeit der offenbar von ihm finanziell „geförderten“ Dame…

Um eine „Lässliche Sünde“ kreist die Geschichte um den ehemaligen Kreuzritter Messire Bruyn, der sich als alter Mann in die entzückende Blanche Azay-Le-Ridel verguckt. Großzügig kauft er deren Vater aus der Gefangenschaft der Sarazenen frei, wofür ihm die Hand der hübschen Tochter zuteilwird. Offenkundig hat der alte Herr allerding seine Manneskraft überschätzt: regelmäßig versagen ihm bei den ehelichen Pflichten die Fähigkeiten. Kein Wunder also, dass die junge Blanche sich umorientiert, nachdem ihr der Abt erklärt hat, es gebe neben den Todsünden auch noch die lässliche Sünde: wenn sie also keinerlei Freude empfände, dann sei das Ganze machbar. Der schöne, aber schüchterne Vorleser René muss also seine erweiterten Dienste versehen, während Blanche sich einfach schlafend stellt. Dann aber geht René zur Beichte und schüttet dem Abt sein Herz aus…

Um das „Erbe des Teufels“ streiten sich die Brüder Hauptmann und Anwalt Cochegrue, deren Vater ein gefeierter Redner in Notre Dame war, sich dann zur Ruhe setzte und nun zum Leidwesen seiner Söhne gar nicht daran denkt, abzutreten. Auch aktiven Versuchen, den alten Herrn um die Ecke zu bringen, widersteht Cochegrue wie durch ein Wunder. Und weil ihm schwant, dass seine Söhne ihm ans Leder wollen, setzt er seinen tumben Cousin Chiquon als Spion auf die beiden an. Diese zeichnen sich in der Tat durch alles andere als einen tugendhaften Lebenswandel aus, der sie in den Ruin treibt – so etwa unterhält der Anwalt ein Verhältnis zur Frau des Goldschmieds, während der Hauptmann sich exklusiv eine Geliebte hält, die auf Entlohnung pocht. Als die beiden Taugenichtse beschließen, den hartnäckigen Chiquon zu töten, heckt der gemeinsam mit dem alten Cochegrue einen wahrhaft teuflischen Plan aus, an deren Ende zwei Leichen stehen – und ein Kirchenredner, dessen Schatten verblüffende Ähnlichkeit mit dem Leibhaftigen aufweist…

Mit seiner „Frau Konnetabel“ muss sich schließlich der Konnetabel von Armignac herumärgern, dessen Göttergattin Bonne ganz offensichtlich ein Verhältnis zum Höfling Savoisy unterhält. Als die Dame im Schlaf den Vornamen ihres Holden haucht, sieht sich der Konnetabel bestätigt, riegelt das Schloss ab und gibt den Befehl aus, Savoisy bei Auftauchen sofort zu erschießen. Als Ausweg aus dieser Zwickmühle schlägt die Kammerzofe vor, die Frau Konnetabel solle doch einfach einen Schlossbewohner als Liebhaber bezichtigen, damit der Zorn des Ehemanns sich dahin richte. Gesagt, getan: bei der Prunkmesse macht die Dame dem Ritter Julien schöne Augen, aber als Savoisy den Garten betritt und prompt befehlsgemäß erschossen wird, wird die Sache kompliziert, zumal sich Julien dennoch fröhlich aufopfern will…

Gewissermaßen als Pause und kleine Abwechslung zu seinem epochalen Hauptwerk „La Comédie Humaine“, das als Romanzyklus in sage und schreibe 88 Einzeltiteln ein umfassendes Portrait der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts bietet, legte Honoré de Balzac in den Jahren 1832, 1833 und 1837 drei Sammlungen vor, die unter dem Titel „Les cent contes drôlatiques“, wahlweise „Les contes drôlatiques“ insgesamt dreißig Erzählungen umfassten. Standen die zeitgenössischen Romane der „Comédie Humaine“ schon dem Titel nach im Gefolge von Dantes Sittenbild der „Göttlichen Komödie“, dürfte Balzac hier an das „Decamerone“ des Boccaccio gedacht haben, das in 100 Novellen ebenfalls ein Zeitbild entwirft.

Auch wenn Balzac seine Vignetten im ausgehenden Mittelalter des späten 15. Jahrhunderts ansiedelt, liefern die drolligen Geschichten natürlich einen beißenden Kommentar auf die conditio humana, die sich über die Jahrhunderte hinweg keinen Deut verändert: die Mächtigen bedienen sich der Doppelmoral, Scheinheiligkeit und Pseudo-Standards, um über ihre eigenen Schwächen, Gier und Lasterhaftigkeit hinwegzutäuschen. Vor allem der Klerus bekommt hier sein Fett weg, und die dekadente Adelsschicht pflegt fröhlich ihre Liebschaften, die die Kirche unter diversen Finten rechtfertigt, solange der goldene Taler rollt. Durchgängig findet sich ein lasterhafter, zotig-expliziter Ton, der eine Brücke auch zu den „Canterbury Tales“ schlägt, in denen Geoffrey Chaucer ein Panorama des Mittelalters entfaltete.

Inhaltlich damit ein sehr erhellender Blick auf das Menschlich-Allzumenschliche, in dem Balzac selbst als Conférencier durchs Geschehen führt, die einzelnen Geschichten kurz einleitet (das kennen wir ja aus den seligen EC-Horror-Anthologien bestens) und auch die durchgängigen Leitmotive wie den Teufel süffisant kommentiert. Optisch wird das Geschehen monochrom gestaltet, fast wie eine Radierung, in der Zeitkolorit und auch erotische Komponente gekonnt eingefangen sind. Somit eine Adaption, die in Auswahl und Ausführung der Quelle sicherlich deutlich gerechter wird als die deutsche Kinofassung von 1968, die schlüpfrigen Erotik-Leinwand-Klaumauk bot, der nur vage mit Balzac zu tun hatte. Da greifen wir lieber zu dieser Version, die bei Splitter standesgemäß großformatig mit einem Skizzen-Anhang erscheint. (hb)

Tolldreiste Geschichten
Text & Story: Paul & Gaëtan Brizzi, nach Honoré de Balzac
Bilder: Paul & Gaëtan Brizzi
128 Seiten in Schwarz-Weiß, Hardcover
Splitter Verlag
29,80 Euro

ISBN: 978-3-96219-124-5

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