L’État Morbide (Splitter)

September 14, 2022
L’État Morbide – Ein Großstadt-Martyrium (Splitter Verlag)

Irgendwie hat sie etwas anziehendes, die düstere, leerstehende Wohnung in dem nicht minder düsteren Mietshaus. Zumindest für Charles, seines Zeichens aufstrebender Comiczeichner. Ohne lange zu überlegen mietet er sich dort ein, trotz der seltsamen Concierge, die ihm die Wohnung nicht gerade schmackhaft macht – zumal sich der Vormieter darin erhängte. Doch Charles lässt sich nicht abschrecken und hofft durch die im Haus und in den Räumen herrschende morbide Stimmung auf Inspiration. Ein Kalkül, das nicht aufgeht. Bald plagt ihn eine Schreib- und Zeichenblockade, sein Verleger dreht den Geldhahn zu. Doch auch seine Freundin Alba vermag ihn nicht umzustimmen, die inzwischen übel riechende und Kakerlaken verseuchte Wohnung zu verlassen. Dann entdeckt Charles das verborgene Tagebuch seines unglücklichen Vorgängers und muss erkennen, dass mit dem Haus und seinen Mietern irgendetwas ganz und gar nicht stimmen kann…

Das alles ist nur der Auftakt zu einem Alptraum – nein, zu mehreren Alpträumen – nicht nur für den Protagonisten, sondern auch für den Leser. Denn jedes der drei in dieser Gesamtausgabe enthaltenen Alben schlägt eine andere Richtung ein, inklusive diverser überraschenden Wendungen, blutigen Scharaden und aberwitzigen Motiven, wobei man stets hinterfragt, was real ist und was nicht. Was ist – im wahrsten Sinne – Theater, wo wird Charles, seiner Clique um Alba und uns Leser etwas vorgegaukelt und wo nicht? Die nicht immer rationalen oder nachvollziehbaren Entscheidungen und Handlungen von Charles passen dabei in dieses diffuse Schema, wobei Autor und Zeichner Daniel Hulet (1945 – 2011) in jedem der drei Teile visuell immer wieder furios abdriftet und damit seine Zeichenkunst, wie auch seine „ungewöhnliche“ Fantasie unter Beweis stellt. Sei es durch das Eintauchen in Charles‘ neuen SF/Horror-Comic, den apokalyptischen Alptraum, der die Clique heimsucht oder die surreale Waterloo-Episode im letzten Kapitel.

Es war eine der ungewöhnlichsten Signierstunden auf dem Comic-Salon in Erlangen. 2004 dürfte es gewesen sein, als Daniel Hulet dort zu Gast war und seine Alben am Stand von Ehapa signierte. Ganz in schwarz gekleidet zeichnete er auf der schwarzen Umschlagseite Monster. Mit einem schwarzen Stift… spätestens da war offensichtlich: das Morbide, Abseitige ist ganz sein Ding. Dabei fing Hulet ganz klassisch an – mit „Pharaon“, einer typischen franko-belgischen Abenteuerserie, die auch in Zack erschien, geschrieben von André-Paul Duchâteau (u.a. „Rick Master“, „Bruce J. Hawker“), gefolgt von „Der Weg zum Ruhm“, einer Reihe, die er gemeinsam mit Jan Bucquoy für das Historien- Comic-Magazin Vécu entwickelte. Mit „L’État Morbide“, bei uns zwischen 1988 und 1993 erstmals erschienen, tauchte er dann vollends in das Phantastische ein. Es folgen die Dreiteiler „Immondys“ – noch wesentlich abstrakter und sperriger, nicht nur was das quadratische Format betrifft und danach „Extra Muros“, wieder etwas kommerzieller und zugänglicher (auch damals bei Ehapa erschienen).

Gegenwärtig erfahren die Werke des mit 66 Jahren zu früh verstorbenen Hulet bei uns eine Renaissance. Neben dieser Gesamtausgabe erscheint im All Verlag „Pharaon“ in hochwertigen Einzelalben und Finix brachte jüngst „Der Weg zum Ruhm“ in einer ebenfalls ansprechenden Gesamtausgabe heraus. Daniel Hulets Zeichenstil erinnert an den von Hermann, als dieser noch nicht direkt kolorierte und mit dem Rapidographen arbeitete – ein nervöser, dünner und wiedererkennbarer Strich, der gerne Alpträume formt. Die Panels sind schief und nie starr angeordnet, die Zwischenräume durchgehend in schwarz gehalten, was die Grundstimmung samt düsterer Farbgebung noch unterstreicht. „L’État Morbide“ bleibt eine skurrile und verstörende Achterbahnfahrt, in der Rätsel und Unergründliches den Reiz ausmachen und nicht deren Auflösung. David Lynch hätte seine Freude daran. Der ausführliche Anhang von Paul Herman schildert den Werdegang Hulets, betrachtet seine Werke und setzt sie in den Kontext der historischen belgischen Phantastik. (bw)

L’État Morbide – Ein Großstadt-Martyrium
Text & Bilder: Daniel Hulet
160 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
39,80 Euro

ISBN: 978-3-96792-366-7

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