Nordfrankreich, in der Stadt New Cherbourg. Am Strand von Querqueville wird ein unbekanntes, großes Meereswesen angeschwemmt. Es sieht aus wie ein Wal, nur mit zotteligem, langem Fell. Der Fund versetzt das Büro der örtlichen Spionageabwehr in Unruhe, zumal kurz darauf eine brisante Akte gestohlen wird, die offenbar Insider-Wissen zu dem Tier enthält, das um keinen Preis in fremde Hände gelangen darf. Die beiden Agenten Emil und Émile Glacère, nicht nur Brüder sondern auch Zwillinge, werden mit der Wiederbeschaffung der Geheimakte beauftragt. Eine Spur führt in das mondäne Grandhotel Roule Palace, das eindrucksvoll über der Stadt thront. Dort soll die Übergabe stattfinden, die die beiden verhindern sollen. Schnell droht die Aktion aus dem Ruder zu laufen, da bekommen die beiden Glacères unerwartete Unterstützung von der jungen Julienne und deren Bruder Gus, deren Vater ein Angestellter des Hotels ist…
Was anfangs nach einem munteren Abenteuer klingt, ist doch so viel mehr. Tatsächlich präsentieren Pierre Gabus und Romuald Reutimann hier eine wilde, völlig unkonventionelle Mischung, die so schräg wie überraschend ist: Zuerst demonstrieren die Zwillings-Agenten, dass sie eine Art Superkraft besitzen, die sie bei Bedarf unverwundbar machen kann. Dann erfahren wir, dass das Meereswesen tatsächlich ein „Fellwal“ ist, der den Gründlern, einer bisher unbekannten Fisch-Mensch-Art , als unterseeisches Reittier dient. Die Existenz der Gründler ist nur wenigen bekannt, die zum inneren Kreis der Spionageabwehr von New Cherbourg gehören. Und warum „New“? Die Geschichte spielt in einer Parallel-Welt (es gibt auch ein New Paris), in der alles möglich scheint. Ein Filmplakat zu John Fords „Die letzte Patrouille“ verrät dabei, dass wir uns etwa in der Mitte der Dreissiger Jahre des letzten Jahrhunderts befinden müssen.
Der Auftaktband beinhaltet zwei Episoden (die, bevor sie im Original bei Casterman als Album veröffentlicht wurden, in zwei Heften bei einem Kleinverlag erschienen sind). In der ersten lernen wir die Akteure kennen – die leicht kauzigen Zwillinge Glacère als fähigere Schulze und Schultze Variation, sowie die beiden Kinder Gus und Julienne. Während Gus erstaunliches Talent im Dressieren von Vögeln zeigt, wird Julienne bald als Agenten-Nachwuchs rekrutiert . In der zweiten Episode erfahren wir mehr über die Gründler, die den Land-Menschen freundlich gegenübertreten, wobei auch die moralische Frage diskutiert wird, ob man deren (Unterwasser)Welt wirklich stören soll – vielleicht sogar nachhaltig – indem man offizielle Regierungsstellen in die Existenz jener intelligenten Wesen einweiht. Dass in der Story auch trockener Humor nicht zu kurz kommt, zeigt die Anspielung auf den Filmklassiker „Die Regenschirme von Cherbourg“ (1964, Regie: Jacques Demy), die große Teile der Episode begleitet, nur ohne Gesang.
So stößt man in der Geschichte immer wieder auf Reminiszenzen und Elemente aus dem Phantastischen, vom Superhelden Genre über Jules Verne, von wilden Agenten-Storys bis zum „Creature from the black lagoon“, gerne skurril verpackt, wie etwa die „Entdeckung“ der Gründler, die zwei verrückten Matrosen zu „verdanken“ ist. Zeichner Romuald Reutimann, der aus Cherbourg stammt, und Autor Pierre Gabus arbeiteten bereits zuvor schon zusammen. Ihre Reihe „Cité 14“, bisher nicht auf Deutsch erschienen, wurde 2012 auf dem prestigeträchtigen Comicfestival in Angoulême preisgekrönt. Die inhaltliche Vielfalt lässt sich auch am Zeichenstil festmachen, dem man Einflüsse von Tardi über Vandersteen und Hergé, der École Marcinelle bis zu Larcenet konstatieren kann. Während die Gesichter meist im Funny-Stil vereinfacht gehalten sind, kann Reutimann auch realistisch, was detaillierte Stadt- und Hafen-Ansichten eindrucksvoll beweisen. Und die skizzenhaft eingefangene Auto-/Regenszene vermittelt eine wunderbar atmosphärische Dichte. Ein in jeder Hinsicht spannender wie origineller Serienauftakt. Band 2 kommt gegen Ende des Jahres, bei Casterman ist bereits ein dritter Band erschienen. Dort im Original heißt die Reihe etwas neutraler und schlichter „New Cherbourg Stories“. (bw)
Der Hafen der Geheimnisse, Band 1: Das Monster aus dem Meer
Text: Pierre Gabus
Bilder: Romuald Reutimann
64 Seiten in Farbe, Softcover
Carlsen Verlag
12 Euro
ISBN: 978-3-551-02395-7