Schöne neue Welt? Weder schön, noch neu. Dafür kalt und künstlich. Denn seit die Erde nicht mehr bewohnbar ist – man hat hier einmal mehr ganze Arbeit geleistet – leben die verbliebenen Menschen auf einer gigantischen Raumstation, die den immerhin noch blauen Planeten umkreist. Und das schon eine ganze Weile. Die Station, die das Ausmass einer Großstadt umfasst, wurde gebaut von einem Konzern namens Tianzhu Enterprises. Tianzhu beherrscht die Station, sowohl gesellschaftlich, als auch wirtschaftlich und politisch. Der Konzern ist allgegenwärtig, greift in jeder Beziehung in das genau getaktete Leben der Bewohner ein. Die hausen in winzigen, wabenähnlichen Wohnungen, die kaum mehr als Platz zum Schlafen bieten. Ansonsten werden die Menschen mit der neuesten Technik auf Trab gehalten. Ständig neue Geräte – wie Handys oder Tablets – regen per mantraartig wiederholter Werbung zum Konsum an und lenken dabei vom tristen Alltag ab.
Scott Peon arbeitet direkt für die Konzernleitung. Er soll nicht einordenbare Vorkommnisse in externen Forschungsstationen untersuchen, wo sich jeweils seltsame Explosionen ereigneten. Bald schwant Scott, dass diese offenbar mit einem ehrgeizigen Langzeit-Projekt Tianzhus zusammenhängen: seit 300 Jahren betreibt man auf dem Saturnmond Titan Terraforming, um eine erdähnliche Atmosphäre zu schaffen. Doch damit nicht genug. In einer dortigen Gegend, die man passenderweise Shangri-La nennt, soll eine neue Menschenspezies angesiedelt werden, die man „Homo Stellaris“ tauft. Keine Klone o.ä. Vom ersten Atom an soll diese Art praktisch aus dem Nichts neu geschaffen werden. Und dazu müssen die Tianzhu Wissenschaftler mit Antimaterie experimentieren, was sich als eine lebensgefährliche und hoch explosive Angelegenheit entpuppt…
Schon der Beginn, den man zuerst noch so gar nicht einzuordnen weiß, deutet an, dass hier storytechnisch ein monumentaler Bogen gespannt wird. Und man wird nicht enttäuscht. Das Finale ist maximal fulminant, nur um dann wieder – wie der Anfang – ganz anders auszuklingen. Dazwischen kreiert Autor und Zeichner Mathieu Bablet mit seiner ersten deutschsprachigen Veröffentlichung eine faszinierende und originäre Science Fiction Story, die vielschichtig und vollgepackt ist mit aktuellen und brisanten Themen. Zuerst zeigt er eine eingelullte Gesellschaft, die unter einer „sanften“ Diktatur, wie es einmal heißt, geführt wird. Das Konsumverhalten wird unterschwellig gelenkt und soll von der alltäglichen Tristesse ablenken. Man kauft die neuesten Geräte, die eigentlich kein Mensch braucht (Apple-Fans kennen das). Alle tragen die gleiche Kleidung. Die „Wohnungen“ sind ein Witz und platzsparend in den Zwischenebenen angelegt. Offener Rassismus wird den intelligenten „Tiermenschen“, Animoiden genannt, entgegen gebracht, die folglich unter sich bleiben.
Doch die im wahrsten Sinne des Wortes geschlossene Gesellschaft bekommt erste Risse. Widerstand formiert sich unter der Führung eines mysteriösen Mister Sunshine. Man will die Allmacht Tianzhus nicht mehr hinnehmen. Zu der Aktivistengruppe gehört auch Scotts Bruder Virgil. Doch Scott, bisher linientreu, zeigt sich immun für dessen Argumente. Bis diverse Ereignisse und Enthüllungen seine scheinbar unverrückbaren Ansichten in den Grundfesten erschüttern… Der Mensch spielt Gott, macht sich die Schöpfung zu eigen. Kann das gutgehen? Und benötigt die Rest-Menschheit, die auf limitiertem Raum zusammenlebt, wirklich eine starke Führung, die für sie auch das Denken übernimmt? Damit stellt Mathieu Bablet auch philosophische und ethische Fragen, die er im Fortgang der Geschichte auch beantwortet. Teilweise überraschend, inklusive Storytwist, aber auch gerne drastisch oder verblüffend, mit den entsprechenden Auswirkungen.
Mathieu Bablet präsentiert seine Tianzhu-Station in akribischen Details. Lange Gänge, sich ständig wiederholende, funktionale Architektur aus kaltem Stahl steht für die Tristesse, der die Menschen täglich ausgesetzt sind, die dann durch Konsum kompensiert wird. Auch die Raumschiffe und die Roboter-artigen Raumanzüge sind originell detailreich ausgeführt. Wortreiche Passagen wechseln sich ab mit Szenen, die ganz ohne Worte auskommen, dazwischen gähnt immer wieder die leere Schwärze des Alls. Auch die Farbgebung, die sich aus Variationen des jeweils gleichen Farbtons zusammensetzt, vermeidet somit alles Bunte und unterstützt die kalte Atmosphäre, in der ab und an die blaue Erde einen Kontrast setzt. An die Darstellung der Gesichter muss man sich jedoch gewöhnen. Die zeichnet Bablet schematisch, fast holzschnittartig in einem ureigenen Stil. Was der allgemeinen Lesefaszination dieses gewaltigen Werks aber keinen Abbruch tut. (bw)
Shangri-La
Text & Bilder: Mathieu Bablet
224 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
39,80 Euro
ISBN: 978-3-96792-065-9