Irgendwo im Odenwald rumpelt eine Kutsche ihrem Ziel entgegen. Percy Shelley, seine Geliebte Mary Godwin und Marys Halbschwester Claire sind unterwegs Richtung Genf, um dort den berüchtigten Schwerenöter George Gordon Lord Byron zu besuchen. Während sich Shelley mit allerlei Zoten amüsiert, macht der Kutscher vor einer finsteren Burg halt: das Haus derer von Frankenstein passiere man hier, so der knorrige Jens. Irgendwie fühlt sich Mary von der Ruine angezogen – während Shelley und Claire murrend warten, erkundet die mutige Dame das Gemäuer. Dort trifft sie alsbald auf eine seltsame Gestalt, die ihr anbietet, sie durchs Haus zu führen. Seltsam vernarbt ist der Geselle, der behauptet, keinen Namen zu haben und von den Experimenten des hier vormals ansässigen Alchemisten Johann Konrad Dippel berichtet. Dieser werte Kollege befasste sich weniger mit der Herstellung von Gold, sondern vielmehr mit der Kreation von Leben aus toter Materie. Immer weiter gleitet Mary mit ihrem Begleiter in eine Welt aus düsteren Visionen ab, in der sie ihre verstorbene Mutter und das Ableben ihres späteren Ehemanns Shelley ebenso erlebt wie die Erkenntnis, dass das fürchterliche Geschöpf ihr wohl nichts anderes darlegt als ihre eigene Vergangenheit und Zukunft…
Über die Findigkeit eines Warren Ellis kann man nur noch staunen. Als Teil der Reihe „Apparat“, zu der auch die wunderbare „Äthermechanik“ gehört, liefert das im Original vielsagend „Frankenstein’s Womb“ betitelte kleine Büchlein eine faszinierende Pastiche aus historischen und literarischen Versatzstücken. Sehr frei wirbelt Ellis dabei die Fakten durcheinander: natürlich besuchten Shelley und seine künftige Frau, die Tochter der Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft, den Lebemann Byron am Genfer See, wo bekanntlich nach einem Wettbewerb im Erfinden von Gruselgeschichten und einem dementsprechenden Alptraum die Idee zum archetypischen Wir bauen uns eine Kreatur-Roman Frankenstein geboren (wie passend) wurde. Dass Frau Shelley dabei vom ebenfalls historisch verbürgten Alchemisten Dippel inspiriert wurde und sogar Burg Frankenstein besuchte, bleibt allerdings reine Spekulation.
Wobei es darum natürlich gar nicht geht: Ellis will mit seiner Reihe ja eben zeigen, wie sich der reißerischen Groschenroman in das Comicgenre entwickelt hätte, wenn da nicht die Superhelden in die Quere gekommen wären. Und so liefert er hier (wie weiland die Phantasmagorie „Gothic“ des wüsten Ken Russell) eine wilde Mixtur aus geschichtlichen Hintergründen, personellen Bezügen (Shelley erscheint als wortgewandter Lüstling, was gar nicht mal so weit weg von der Realität sein dürfte, auch wenn der Mann Meisterwerke wie die „Ode to the West Wind“ zu Papier brachte und rein literarisch deutlich mehr auf die Kette kriegte als sein Kollege Byron) und philosophisch-existentiellen Implikationen der Romanvorlage: da trifft Mary in Gestalt der namenlosen Kreatur ihr eigenes Kind (nicht umsonst kann man die Erzählung auch als eine Aufarbeitung von Geburtsangst und Kindestod deuten), das sie durch finstere Zukunftsbilder (Shelley stirbt, nachdem er seinen Doppelgänger getroffen hat, ein weiteres durchgängiges Bild der Schauerromantik und Leitmotiv des Romans), aber auch gleißende utopische Visionen führt (in einer Metropolis-artigen Szenerie stehen die beiden plötzlich über den Dächern einer modernen Megacity).
So entsteht ein wahlweise rausch- und alptraumhafter Reigen, der viele Facetten des stilprägenden Romans aufruft und dabei einen parforce-Ritt durch Literatur- und Geistesgeschichte abliefert. Typisch Warren Ellis eben, der das finstere Treiben von Marek Oleksicki kongenial in fein ziselierten Tusche-Zeichnungen inszenieren lässt. Schön auch die sorgfältige Übersetzung und Einrichtung durch Josua Dantes, der den Text für die deutsche Ausgabe kenntnisreich und launig kommentiert und mit einem aufschlussreichen Anhang versieht. (hb)
Frankensteins Schoß
Text: Warren Ellis
Bilder: Marek Oleksicki
52 Seiten in schwarz-weiß, Softcover
Dantes Verlag
9 Euro
ISBN: 978-3-946952-33-6