Unterm Sternenzelt (Splitter)

November 22, 2017

Amédée, Prie-Dieu und La Merguez. Drei Obdachlose, die sich gefunden haben. Sich und eine der vielen Pariser Brücken, unter der sie sich samt ausgedienter Telefonzelle als Wohn-Accessoire eingerichtet haben. Als der penetrante Polizist Clémenceau das Trio einmal mehr vertreiben will, mischt sich ein Notar mit einer wundersamen Neuigkeit zwischen die Streitenden: Amédée, der mit richtigem Namen Jean-Pierre Rousseau heißt, hat geerbt. Von seiner nun verstorbenen Tante Adelaide. Und zwar ein ganzes Haus samt Garten. Klingt nach rosigen Zeiten für das Trio, denn es versteht sich von selbst, dass das neue Heim von allen dreien in Beschlag genommen wird. Doch da gibt es einen kleinen aber entscheidenden Haken: Amédée muss die Vormundschaft über Tante Adelaides Sohn übernehmen. Der heißt Nicolas und hat Trisomie 21. Nicolas entpuppt sich nicht nur als munteres Bürschchen, er ist auch ein glühender Fan von Juri Gagarin (wer’s nicht weiß: Gagarin wurde als erster Mensch im Weltall 1961 zum Held der Sowjetunion). Natürlich ist sein Ziel, einmal ins All zu reisen. Einen provisorischen Raumanzug hat er sich dafür schon gebastelt. Und Nicolas hat noch eine weitere Angewohnheit: er geht gerne stiften. Plötzlich und unangekündigt. Was bei Amédée, der nun eine ungewohnte, sozial verantwortungsvolle Rolle einnehmen muss, blankes Entsetzen auslöst…

Ein Treffen der Außenseiter: Amédée und seine beiden Kumpels sind exzentrische, durchgeknallte Eigenbrötler, die der Gesellschaft eigentlich längst Adieu gesagt haben und denen sich nun unverhofft ein Weg zurück eröffnet, während Nicolas mit seinem Down-Syndrom zu Teilen in einer eigenen Welt lebt. Auch er ignoriert die geltenden Regeln der Gesellschaft und baut sich ein geistiges Reich, in dem Juri Gagarin und dessen Leistungen im Mittelpunkt stehen. So kennt Nicolas den Funkverkehr mit der Wostok – Gagarins „Raumschiff“ – auswendig und er trainiert auf dem Dach des Hauses in Weltraum-Montur gerne mal für seinen kommenden Flug ins All (dass Gagarin bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam, blendet er offenbar aus). Als Nicolas dann einmal mehr unangekündigt ausbüxt und nicht am üblichen Ort zu finden ist (vor einem Werbeschild für einen Weltraum-Themenpark), startet Amédée gemeinsam mit Madame Louison, der häuslichen Krankenpflegerin von Nicolas, eine panische, turbulente und gleichzeitig hoch amüsante Suchaktion, die ihn in ebendiesen Park führt. Denn sollte er binnen 48 Stunden den Jungen nicht gefunden und in seiner Obhut haben, verliert er die Vormundschaft. Und natürlich das Haus.

Der Band ist zu keiner Zeit kitschig, was man angesichts der Hauptpersonen und der Story vermuten könnte. Auch Mitleid findet man hier nicht. Amédées Ziel ist es, das Haus zu besitzen und zu halten. Der Junge spielt dabei eher die zweite Geige, drängt sich ob seiner Eskapaden dann aber in den Vordergrund. Dabei ist die Geschichte äußerst warmherzig erzählt. Und steckt voller komischer Momente, an denen auch Amédées Kumpels oft beteiligt sind. Daran ist nicht nur das wunderbare, atemlose Storytelling von Autor Ducoudray schuld (der hier einen weitaus besseren Job abliefert als mit „Bob Morane Reloaded“), das mit obskuren Einfällen und schrulligen Charakteren punktet, sondern das Artwork von Zeichnerin Anlor (d.i. Anne-Laure Bizot). Die legt Amédée als einen Wüterich an, dem man – ähnlich wie bei Kapitän Haddock oder Andy Morgans Kumpel Barney Jordan – trotz seiner Schimpftiraden und impulsiven Ausbrüchen nie böse sein kann. Die sind, wie der ganze Band, in einem kräftigen, leicht überspitzten Zeichenstil gehalten. Wie die Story voller Elan und Kraft und fast scheint es, als führte Amédées wilder Haarschopf ein Eigenleben wie die Schlangen der Gorgonen. Dies und überraschende Wendungen, gepaart mit unerwarteten Personen-Konstellationen, machen den Band zu einem großen, herzlichen Lesevergnügen. (bw)

Unterm Sternenzelt
Text: Aurélien Ducoudray
Bilder: Anlor
104 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
22,80 Euro

ISBN: 978-3-96219-014-9

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