Buchstäblich aus dem Nichts ins Abenteuer: mitten im Winter New Yorks taucht unsere Hauptfigur auf. Capricorn wird er fortan genannt. Wo er herkommt und wie sein wahrer Name ist, wissen wir nicht. Ein Buchladen, in dem er Astor, seinen zukünftigen Assistenten, trifft und ein abgestürzter Zeppelin, der in Flammen aufgeht, führen zu einer ersten Konfrontation, zuerst mit dem zwielichtigen wie reichen Boss Cole und dann mit der Gilde, einer geheimen, mysteriösen ehemaligen Regierungs-Organisation. Die jagt einem Objekt nach, das am Meeresgrund gefunden wurde. Dabei trifft Capricorn auch erstmals auf Ash Grey, Pilotin des abgestürzten Zeppelins und seine zukünftige Partnerin. Am Ende vermacht der sterbende Cole seinen Wolkenkratzer an Capricorn („Das Ding“). Einige Zeit ist vergangen. Capricorn, Ash Grey und Astor, der dort die riesige Bibliothek pflegt, haben im Wolkenkratzer ihr Hauptquartier aufgeschlagen. Capricorn verdient als Astrologe ein Vermögen, denn sein Klientel ist stinkreich. Als Ashs Bruder John, der im Krankenhaus liegt und in der ersten Geschichte mit der Gilde zusammenarbeitete, von einem seltsamen Blitz getroffen wird, verwandelt er sich in ein zerstörerisches Energiewesen. Eine indianische Prophezeiung, alt wie unheilvoll, scheint sich zu erfüllen, wenn Capricorn nicht eingreift („Energie“). Eine junge Frau namens Delia Darkthorn taucht im Wolkenkratzer Capricorns auf. Mit einem ungewöhnlichen Anliegen: sie würde gerne eine Superkraft haben. Zu diesem Zweck besucht sie diverse Okkultisten, die jedoch durch die Bank jämmerlich versagen. Trotzdem braut sich rund um Delia irgendwas zusammen. Sie wird verfolgt und ihr stinkreicher Vater scheint ein eigenes Spiel zu spielen („Delia“).
Tatsächlich ist dies der erste Comic, den wir von Andreas besprechen. Das hat seinen Grund. Denn lange Jahre erschien von ihm kein Titel bei uns. Dabei hat er in seiner beachtlichen Karriere, die in den Siebzigern mit einer Zusammenarbeit mit Eddy Paape begann, bisher schon etliche Alben getextet und gezeichnet. Und er ist in Deutschland geboren. Deutschen Lesern wurde er durch „Rork“ bekannt, seine Serie, die im Magazin Schwermetall vorveröffentlicht und später im Albenformat nachgedruckt wurde (vier Alben ab 1988 in der Reihe „Schwermetall präsentiert“). Auch mir ging das so und ich war sofort von der phantastischen Story, der klaren, strengen Linienführung und vom kompletten Design der Serie fasziniert. Später folgten im Rahmen der Reihe „Carlsen Lux“ drei Einzelalben von Andreas: das geniale „Unsterblich wie der Tod“, das komplexe „Azteken“ und Kurzgeschichten um den Privatdetektiv „Raffington Event“. Sein „Cromwell Stone“ erschien in zwei Ausgaben bei Alpha und Arboris brachte 1995 den Querformatband „Das Rote Dreieck“ heraus. 1998 folgten noch zwei Alben von „Capricorne“ bei Carlsen. Dann war lange Zeit Schluss mit Veröffentlichungen in Deutschland, wobei Rork und Cromwell Stone hierzulande unvollendet blieben. 2010 dann ein „Lebenszeichen“: Finix veröffentlichte den Einzelband „Quintos“, und schließlich nahm sich der Verlag Schreiber & Leser dem Werk Andreas‘ an und brachte zuerst die fällige Gesamtausgabe von „Cromwell Stone“, gefolgt von einer mächtigen, zweibändigen Gesamtausgabe von „Rork“, die nicht minder fällig war. Jetzt erscheint dort auch „Capricorn“ (ohne das e), in sieben Bänden zu je drei Alben. Endlich, möchte man sagen, wird das Werk von Andreas auch bei uns in entsprechend ansprechenden und sorgfältigen Ausgaben gewürdigt.
Nun also „Capricorn“. Hauptfigur ist der gleichnamige mysteriöse Astrologe, der in einem nicht minder mysteriösen Wolkenkratzer im New York der Dreißiger Jahre lebt. Capricorn tauchte bereits auf den Seiten Rorks auf – man kann die Serie natürlich auch lesen, ohne Rork zu kennen, wenngleich dem Lesevergnügen dann einiges an Tiefe abgeht. Auch diverse andere Figuren (Delia Darkthorn, Manga) und Motive finden wir bereits bei Rork. Es findet eine regelmäßige, wenn auch behutsame Interaktion zwischen den beiden Serien statt (auch Raffington Event taucht übrigens bereits in Rork auf). Die Geschichten sind komplex gestaltet, Andreas vergisst kein Detail. Alles kann eine Bedeutung haben, die sich erst später erschließt. Immer wieder blättert man die Seiten zurück, studiert das Gewesene. Und über allem hängt das Mysteriöse, das Unerklärliche, die Aura, die den Leser annehmen lässt, dass über dem Geschehen höhere Dinge stehen oder passieren, auf die die Akteure keinen Einfluss haben. Das beginnt schon am Anfang. Die Figur des Capricorn, die eigentlich ganz anders heißt, taucht im verschneiten New York auf und bekommt von drei alten Fauen nicht nur den neuen Namen verpasst, sondern auch diffuse Ratschläge und Weissagungen, was an Macbeths Begegnung mit den drei orakelnden Hexen erinnert. Führt die erste Geschichte noch die Personen ein, ohne auf eine rasant komplexe Handlung zu verzichten („Das Ding“), kann das Finale der zweiten Episode als eine Hommage an die klassischen Godzilla-Filme gedeutet werden – mit einer gehörigen Portion indianischer Legenden („Energie“) – wobei die unterirdische Anlage an den Filmklassiker „Forbidden Planet“ erinnert. Im dritten Band („Delia“) führt Andreas den Leser geschickt an der Nase herum, indem er die ganzen Scharlatane, die Delia aufsucht, als eben solche enttarnt und zur vermeintlichen Belustigung zeigt, nur um dann in einem Story-Twist das große Ganze dahinter zu präsentieren.
Dabei ziehen sich diverse Dinge, Personen und Vorkommnisse durch alle drei Geschichten, tauchen immer wieder auf, ohne erklärt zu werden. Was hat es mit Gestalt mit der tätowierten Hand auf sich? Und mit den Karten, die Capricorn von den drei Alten bekam? Welche Bedeutung haben die uralten unterirdischen Gänge der Indianer? Was führt die Gilde im Schilde? Andere Dinge werden gezeigt, bleiben aber unerklärt im Dunkeln. Wer hat den gigantischen, unterirdischen Apparat gebaut, der Capricorns Wolkenkratzer mit Strom versorgt? Wie haben es die Indianer geschafft, die Energie er Erde anzuzapfen? Wieder die Aura des Unerklärlichen. Was eine ungeheure Faszination beim Lesen erzeugt. Der Leser ist gefordert, muss achtsam bleiben, um Zusammenhänge in ihrer Gänze zu verstehen, um auch die Nebenfiguren ihrem richtigen Kontext zuzuordnen. Dazu kommen die Zeichnungen und das außergewöhnliche Design. Andreas Strich ist kantig, eckig, seine Personen sind überzeichnet, bisweilen karikiert (Astor, der Bibliothekar). Dabei vernachlässigt er nie die Details. Die Seiten reichen von beeindruckenden Großdarstellungen (die unterirdische Energie-Anlage, die Labyrinth-artige Bibliothek im Wolkenkratzer) bis zu kleinen Panelanordnungen, die wie Mosaik-Einschübe vor einer größeren Darstellung angeordnet sind. Beeindruckend wie abwechslungsreich. Und immer fesselnd. In Frankreich bei Lombard schließt Andreas die Serie in Kürze mit Band 20 ab. Hier sind wir noch ganz am Anfang, der jedoch eine komplette Veröffentlichung der Reihe verheißt. Und da gibt es noch mehr: ARQ, eine weitere Reihe von Andreas, umfasst im Original bereits 18 Alben. Und harrt ebenfalls noch einer deutschen Veröffentlichung. Wie es scheint werden wir an Andreas und seiner Arbeit zukünftig dauerhaft und regelmäßig unsere Freude haben. Das wird auch Zeit und das ist auch gut so. (bw)
Capricorn Gesamtausgabe, Band 1
Text & Bilder: Andreas
144 Seiten in Farbe, Hardcover
Verlag Schreiber & Leser
29,80 Euro
ISBN: 978-3-946337-01-0