Inzwischen schreiben wir den Winter 1847/48. Sir John Franklin, der Expeditionsleiter, ist seit einem halben Jahr tot. Seine beiden Schiffe, die Terror und die Erebus, sind nordwestlich der King-William-Insel im arktischen Eis gefangen. Skorbut und andere Krankheiten schwächen die 119 Männer. Mit der Moral steht es nicht zum Besten. Langsam nehmen Überlegungen Gestalt an, die noch relativ sicheren Schiffe zu verlassen und sich nach Süden durchzuschlagen. Mindestens 800 Meilen zu Fuß. Man beschließt, die Beiboote mit schwerem Gepäck über das Eis zu ziehen und macht sich auf den beschwerlichen Weg. Dann bricht plötzlich wider Erwarten das Eis auf und man eilt zurück auf die Schiffe. Doch deren eisfreie Fahrt nach Süden ist schon nach wenigen Meilen zu ende. Das Packeis ist zu dicht. Wieder gefangen. Derweil schwenkt die Handlung erstmals zurück nach England. Da man dort nach nun drei Jahren noch ohne jegliche Nachricht von der Expedition ist, schickt man – auch auf Drängen von Lady Franklin – erste Suchexpeditionen auf den Weg.
Mittlerweile wird die Lage der Männer im Eis immer dramatischer. Francis Crozier, Kapitän der Terror, nimmt sich das Leben. Inzwischen ist der Tod allgegenwärtig. Man verlässt die Terror und schlachtet sie aus, ehe sie vom Eis zermalmt wird. Brennholz wird dringend benötigt. Im Mai 1850, nach fünf Wintern im Eis, gibt man die Erebus endgültig auf und macht sich erneut auf den aussichtslosen Weg nach Süden. Es gibt keine Alternative mehr. Skorbut und Mangelerscheinungen zermürben und schwächen die Mannschaften. Während von allen Seiten weitere Suchexpeditionen in die Arktis eindringen und dabei zum Teil selbst in Not geraten, verlieren sich die Spuren der letzten Überlebenden der Franklin Expedition im Eis. Die greifen in ihrer Verzweiflung zu einem letzten Mittel: Kannibalismus. Trotzdem wird niemand überleben. In den Jahren und Jahrzehnten darauf findet man Hinterlassenschaften der Expedition und versucht bis heute, deren Ende zu rekonstruieren.
Der allergrößte Teil der hier im abschließenden Band der dreiteiligen Graphic Novel über die Franklin-Expedition geschilderten Geschehnisse ist fiktiv. Er muss es auch sein. Denn außer einer Nachricht, die viel später im Jahre 1859 eine der zahlreichen Suchexpeditionen in einem Steinmal auf der King-William-Insel fand, sind von der Besatzung der Terror und der Erebus keine Aufzeichnungen erhalten. Man weiß nicht, wie und wann die Schiffe aufgegeben wurden. Oder ob Crozier Selbstmord beging. In wie vielen Gruppen die Überlebenden nach Süden zogen. Wie weit sie kamen. Fest steht nur: niemand überlebte die verhängnisvolle Forschungs- und Entdeckungsreise. Alles was man heute weiß, basiert auf Vermutungen und Indizien, die sich einmal auf die Funde stützen, die man in den darauf folgenden Jahren und Jahrzehnten machte (bis heute: die Erebus wurde erst im September 2014 auf dem Meeresgrund geortet, was die Franklin-Forschung erneut befeuert). Ansonsten bleiben diverse Hinterlassenschaften der Männer, die verzweifelt nach Süden zogen. Und deren Knochen. Zum anderen gelangte man an Informationen über die Berichte der Eskimos, die immer wieder Kontakt mit Expeditionsmitgliedern hatten oder diese auf ihrem Weg nach Süden beobachteten. Und die diverse Gegenstände besaßen, welche sie bei den Toten gefunden hatten.
Dass Kristina Gehrmann das Dilemma um dieses „Informations-Vakuum“ perfekt gelöst hat sieht man daran, dass man beim Lesen stets denkt, so könnte – ja genau so müsste es gewesen sein. Die einzelnen Episoden, die Handlungen und Entscheidungen der Offiziere und der Besatzung bleiben stets schlüssig und nachvollziehbar. So werden die verschiedenen Sichtungen von Besatzungsmitgliedern durch die Eskimos an unterschiedlichen Orten erklärt, und auch der Fundort der Erebus, der weiter südlich ist, als auf der Nachricht, die man fand, angegeben. Die Autorin sammelte akribisch alle verfügbaren Fakten und Aufzeichnungen der Rettungsexpeditionen (so wies man im britischen Empire erste Berichte über Kannibalismus empört und entschieden zurück), weshalb Spekulation und Tatsachen hier eine plausible Einheit bilden. Gehrmann gibt der Tragödie und den Menschen, die diese durchlebt haben und daran zugrunde gegangen sind, ein Gesicht, wodurch deren erschütterndes Schicksal umso intensiver wird. Dabei bleibt sie auch hier ihrem an den Manga angelehnten Zeichenstil treu, bringt dazwischen aber immer wieder realistische Großaufnahmen der Gesichter der Offiziere und Besatzungen, in denen sich der erschreckende körperliche Verfall widerspiegelt. Dass ausgerechnet die Suchmannschaften schließlich die Nordwestpassage, deren Finden und Durchfahren das Ziel der Franklin-Expedition war, erstmals komplett durchquerten, bleibt angesichts des Dramas eine ironische Randnotiz der Geschichte. (bw)
Im Eisland, Band 3: Verschollen
Text & Bilder: Kristina Gehrmann
272 Seiten in Schwarz-Weiß, Softcover, Buchformat
Hinstorff Verlag
18,99 Euro
ISBN: 978-3-356-02024-3