Winter 1845/1846. Die beiden Schiffe der Franklin Expedition überwintern auf der Suche nach der Nordwestpassage bei der kleinen Beechey Insel weit im nördlichen Eismeer. Es gibt zwei weitere Todesfälle. Die Stimmung an Bord wird schlechter. Doch dann ist der arktische Winter vorüber, die Sonne geht auf. Nachdem das Eis aufbricht und das Meer wieder befahrbar wird, segeln die Schiffe nach Südwesten. Die dortigen Landmassen sind teilweise noch nicht vollständig erforscht und kartographiert. So ist noch nicht bekannt, wie alle Küsten verlaufen, ob es sich bei dem bereits bekannten Land um Inseln, Halbinseln oder das kanadische Festland handelt. Dabei entstehen immer wieder gefährliche Situationen, beispielsweise wenn Kapitän Coziers Terror auf eine Sandbank aufläuft und mit Muskelkraft wieder flott gemacht werden muss. Auf dem Weg nach Süden entscheidet sich Franklin trotz der Mahnungen des bedächtigen Croziers angesichts der ungewöhnlich dicken und dichten Eisschollen, an der noch weitgehend unbekannten Westküste von King-William-Land (es war noch unklar, dass es eine Insel ist) entlang zu segeln, um dort gegebenenfalls einen geeigneten Platz für das nächste Überwintern zu finden.
Doch im September 1846 ist die Fahrt schon wieder zu ende. Die Schiffe werden in Küstennähe vom Packeis eingeschlossen. Kein Sprengen, kein Sägen hilft mehr. Das Eis ist zu mächtig. Trotzdem ist man zuversichtlich einen weiteren Winter im Eis meistern zu können. Doch nach und nach weisen immer mehr Männer Mangelerscheinungen auf. Es könnten erste Fälle von Skorbut sein, vielleicht auch die Folgen der bleihaltigen Konservennahrung. Das Wasser muss rationiert werden und zu allem Überfluss scheinen der Frühling und damit das Aufbrechen des Eises nicht stattzufinden. Positions-Messungen zeigen, dass die Schiffe nach Süden driften. Franklin schickt eine Expedition aus, die die Westküste von King William Land erkundet und dabei dort die Nachricht, die man Jahre darauf finden sollte, hinterlässt (und die später noch einmal ergänzt werden sollte). Dabei stellt man fest, dass es sich um eine Insel handelt und beweist so die Existenz der Nordwestpassage. Dann stirbt im Juni 1847 urplötzlich Kapitän Sir John Franklin…
Mit Band 2 der dreiteiligen Graphic Novel verlässt Autorin und Zeichnerin Kristina Gehrmann die gesicherten Pfade und belegten Tatsachen der fatalen Expedition, in deren Verlauf alle Teilnehmer starben und kann sich allenfalls auf die wenigen bekannten Eckdaten, gefundenen Relikte (siehe die entdeckte Nachricht) und Rekonstruktionsversuche berufen. Als Leser merkt man davon nichts. Die Geschichte geht ohne jeglichen Bruch weiter, so dass man als Leser ständig geneigt ist zu sagen: genau so kann es geschehen sein: die fatale Entscheidung, die Route entlang der Westküste der King William Insel zu nehmen (Amundsen befuhr später die Ostküste), die Franklin voller Wagemut und aus Angst vor dem Scheitern traf. Das triste Leben an Bord, das stets voller Hoffnung aber doch nach und nach, beinahe schleichend, immer entbehrungsreicher und schwieriger wurde. Der qualitativ minderwertige Proviant (das Mehl war gestreckt), die bleiverseuchten Konserven, das harte unbarmherzige Klima und vor allem die verfahrene Situation, das Warten auf höhere Gewalt – all dies schwächt die Mannschaften und die Offiziere und wird heute vereint als mit verantwortlich für das Scheitern angesehen.
Die Isoliertheit und die extreme Situation nagen auch an der psychischen Verfassung der Männer. Depressionen müssen behandelt werden und vor allem Kapitän Crozier baut derart ab, dass er vom Schiffsarzt mit Laudanum (Opium) versorgt wird. Trotzdem werden die viktorianische Ordnung und Gesinnung gepflegt: das beinahe arrogante Vertrauen auf das britische Empire ist ungebrochen, die Etikette werden eingehalten und homosexuelle Handlungen an Bord werden nicht toleriert und hart bestraft, gefolgt von einer flammenden Rede des Schiffsarztes, der Homosexualität als Krankheit und Zeichen der Schwäche brandmarkt. So lässt Gehrmann immer wieder Einzelschicksale in den Vordergrund fließen. Crozier, der erfahrene Arktis-Reisende, den böse Vorahnungen in die Depression treiben. Der Schiffsjunge Evans, der die schwulen Matrosen ans Messer liefert und dann von Gewissensbissen geplagt wird. Erschöpfte Maschinisten, die Mangelerscheinungen aufweisen. Dabei wird stets deutlich, wie gut das damalige Leben an Bord, die eingesetzte Technik und die Expedition an sich recherchiert sind. Wir sehen, wie mit riesigen Eissägen manuell eine Fahrrinne entsteht. An Silvester kommt bei der Feier auf dem Eis die mitgeführte Drehorgel zum Einsatz. Alles Details, an denen deutlich wird, wie intensiv sich Kristina Gehrmann mit der Materie auseinandersetzte.
Franklin selbst bleibt dabei stets die distanzierte unangefochtene moralische Instanz, quasi der lange Arm des britische Empires, der nur kurz zögert, als Crozier angesichts des dichter werdenden Eises zur Umkehr mahnt. Das Buch endet wieder mit dem Tod. War es am Schluss von Band 1 der Matrose Torrington, der als erstes Todesopfer der Expedition auf der Beechey Insel beigesetzt wurde, ist der Tod nun schon beinahe ein ständiger Begleiter und schlägt dann an höchster Stelle zu, als Franklin in kürzester Zeit völlig unerwartet stirbt. Die Vorzeichen für den abschließenden Band, der das vollständige Scheitern und den Untergang der Expedition schildern wird, sind damit gesetzt. Wer geschichtlich interessiert ist und jenseits von bekannten, trockenen Fakten erfahren möchte, wie es sich damals zugetragen haben könnte, der ist hier goldrichtig. Band 3 erscheint im Frühjahr 2016. Wir sind gespannt. (bw)
Im Eisland, Band 2: Gefangen
Text & Bilder: Kristina Gehrmann
224 Seiten in Schwarz-Weiß, Softcover, Buchformat
Hinstorff Verlag
16,99 Euro
ISBN: 978-3-35601-994-0