Rohrkrepierer (Carlsen)

Dezember 8, 2015

Rohrkrepierer (Carlsen)

Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine schwere Zeit. Es fehlt an allem. In den Städten blüht der Schwarzmarkt. Man versucht zu leben. Der junge Kalle wohnt in Hamburg auf St. Pauli bei seiner Mutter und seiner Oma in einer kleinen, ärmlichen Wohnung. Mit seinen Kumpels vertreibt er sich nach der Schule in der Stadt und an den Landungsbrücken die Zeit. Sein Freund Uwe muss für seinen Vater, einen Kriegsversehrten, Zigaretten für den Schwarzmarkt drehen. Eines Tages kehrt Kalles Vater Ludwig aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft unverhofft zurück. Er ist mit seinem Schiff untergegangen und hat überlebt. Ein prägendes Trauma. Ludwig tut sich schwer. Das Ehebett bleibt ihm verwehrt. Er trinkt viel, zu viel, bleibt verschlossen. Nur Kalle und alten Kameraden gegenüber taut er auf. Später zieht es ihn wieder auf See – er heuert auf einem Tanker an. Inzwischen lebt Kalle seine unbeschwerte Kindheit, so gut und soweit dies möglich ist.

Zeitenwechsel. Noch immer St. Pauli, einige Jahre später. Mitte der Fünfziger. Die Wirtschaft blüht wieder auf, wie auch St. Pauli als Vergnügungsviertel. Kalle ist zum jungen Mann herangewachsen. Er malt gerne, am liebsten das Portrait Louis Armstrongs. Sein Verhältnis zur Mutter ist zerrüttet, der Vater beendet sein Leben auf See und kehrt ein weiteres mal heim. Kalles Gedanken kreisen um Musik und Mädchen und das erste Mal. Bei einer Tanzveranstaltung in Altenwerder lernt er Anna kennen – seine erste große Liebe, die ihn später so bitter enttäuschen wird, als er ihr nach Amrum nachreist und er sie mit dem Schauspieler und Kabarettisten Wolfang Neuss liiert sieht. Dann verliert er auch noch seinen Vater, der plötzlich an den Folgen eines schweren Herzinfarkts stirbt. Kalle entschließt sich zu gehen…

Was wie eine stringente Geschichte oder wie eine Coming-of-Age Story, ein Bildungsroman, klingt, ist nicht so. Vielmehr ist die Adaption des gleichnamigen autobiographisch geprägten Romans des Hamburger Autors Konrad Lorenz (nein, nicht der Tierforscher) keine Charakterstudie, sondern episodenhaft präsentiert und portraitiert gleichzeitig sehr gelungen das damalige Alltags-Leben, das zuerst vom Kriegsende gekennzeichnet ist und später in Aufbruchstimmung mündet. Dementsprechend ist der Band zweigeteilt. Neben diversen charmanten Lausbubengeschichten (sehr schön: die Catcher und das Prinz Eisenherz Heft) sehen wir im ersten Teil auch exemplarisch an Kalles Vater, mit welchen enormen Problemen die alleingelassenen Kriegsheimkehrer zu kämpfen hatten und wie sie diese in Alkohol zu ertränken versuchten. Kriegsveteranen, Heimkehrer, Überlebende, die es nicht schaffen, von ihren traumatischen Erlebnissen zu berichten, die sie als Last mit sich herumtragen und verzweifelt versuchen ihren Platz im neuen Alltag, in der neuen Ordnung zu finden.

Im zweiten Teil ist Kalle schon beinahe erwachsen. Er begegnet seiner ersten Liebe, macht prägende Erfahrungen und genießt das Leben. Mit all seinen Gefahren. Als er Murksi wieder trifft, der aus dem Gefängnis entlassen wurde und der damals in seiner alten Clique Ratten in Rohren gefangen hatte und tötete (= Rohrkrepierer), lässt er sich ausnehmen und bedrohen und kommt gerade so noch einmal ungeschoren davon. Nach seinen beiden Verlusten – Anna und sein Vater Ludwig – wird er endgültig flügge und entschließt sich eskapistisch für ein Leben als Seemann. Isabel Kreitz (Haarmann, Die Sache mit Sorge, Die Entdeckung der Currywurst) beeindruckt einmal mehr in ihrer neuen Graphic Novel ‚Rohrkrepierer‘ mit bestens recherchierten, detailfreudigen Bleistift-Zeichnungen, die die Gründerzeit der Bundesrepublik Deutschland als milieuhafte Darstellung in St. Pauli beeindruckend einfangen. Die langen plattdeutschen Passagen (die nicht ‚übersetzt‘ werden) stellen den Dialekt unkundigen Leser dabei vor die eine oder andere Herausforderung. (bw)

Rohrkrepierer
Text & Bilder: Isabel Kreitz
nach dem Roman von Konrad Lorenz
304 Seiten in schwarz-weiß, Hardcover
Carlsen Verlag
26,99 Euro

ISBN: 978-3-551-78378-3

 

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