Fairy Quest, Band 1 (Popcom)

Oktober 17, 2015

Fairy Quest, Band 1 (Popcom)

Rotkäppchen fürchtet sich vor dem bösen Wolf. So haben es Generationen von Kindern mit heißen Ohren gehört, Rotkäppchen kommt vom Wege ab, ein grimmes Monster verfolgt sie, verleibt sich die Großmutter ein, warum hast Du so große Ohren, und die Sache nimmt ihren Lauf. Alles bekannt? Nicht ganz. Denn Rotkäppchen hat auf den ganzen Mummenschanz schon lange keine Lust mehr, sie hat sich mit dem Wolf angefreundet, der eigentlich ein ganz netter Kerl ist, der keinem etwas zu Leide tut, und schiebt ihm heimlich gerne etwas zu Essen zu. Auch Aschenputtel ist in keinster Weise glücklich bis ans Ende ihrer Tage: der Prinz erweist sich als hochnäsiger Schnösel, der bei jedem Ball-Treffen weniger Interesse an ihr zeigt. Im Märchenwald, den die Märchenwesen zu Hauf bevölkern, brodelt es also: man will ausbrechen aus den immer gleichen Rollen und Abläufen, man will ein eigenes Leben führen.

Das gefällt dem bösartigen Grimm allerdings gar nicht: er herrscht mit eiserner Hand über sein Reich und überwacht alle Schritte seiner Geschöpfe. Seine Gedankenpolizei verfolgt alle Abweichler gnadenlos und steckt alle Aufrührer in den Gedankenradierer, wo man gewaltsam „umerzogen“ wird. Als Aschenputtel genau dort endet, läuft das Fass für Rotkäppchen über: der Zwerg Dix, der in den Bergwerken der weißen Königin schuften muss, erzählt, dass das sagenhafte Land namens „Realwelt“, in den sich die Märchenwesen in ihren Träumen flüchten, wohl irgendwo wirklich existiert. Gemeinsam mit ihrem Freund, dem Wolf, macht sich Rotkäppchen auf den Weg zu einem illustren Revoluzzer, der in einer entlegenen Ecke namens Nimmerland haust. Niemand anders als Peter Pan kennt ja den Weg nach draußen, oder zumindest jemand, der ihn findet: der in Ketten gelegte Captain Hook verrät ihnen, dass der Kartograph, der Dix von der „Realwelt“ erzählt, hat, hinter dem dunklen Wald wohnt, dort, wo sich niemand hinwagt…

Den beiden auch als Team erprobten Marvel-Veteranen Paul Jenkins und Humberto Ramos, die unter anderem an ‚The Spectacular Spider-Man‘ arbeiteten und dafür diverse Preise einheimsten, schaffen in Fairy Quest eine verdrehte Märchenwelt, in der der ja immer schon brutale ordnungspolitische Charakter, den die Geschichten zu erfüllen haben, pointiert zu Tage tritt: in einer nur wenig kaschierten Variante von Orwells genredefinierender Antiutopie fungiert der böse Grimm als Großer Bruder, der alles und jeden überwacht, selbst abweichlerische Gedanken polizeilich verfolgt – KGB und SED lassen grüßen – und mittels Terror und Gehirnwäsche regiert. Die Bewohner des Märchenwaldes sind dazu verdammt, als seine Marionetten täglich die gleichen Abläufe zu durchleben, auch wenn diese sich von ihrer Lebensrealität mehr und mehr entfernen – das ritualisierte Dasein in einer Diktatur führt zwangsläufig zu Unmut und Aufstand. Der nicht dem grimmschen Kanon entstammende Peter Pan, der sogar eine Figur aus der realen Welt kennt (seine guten Freundin Wendy), ist dem Despoten schon jeher ein Dorn im Auge, weshalb der sich in einen unzugänglichen Winkel der Welt zurückgezogen hat.

Auch wenn wir Herrn Jenkins das geläufige Missverständnis nachsehen, die Märchenwelt stamme von den Gebrüdern Grimm (aufgemerkt, Wissen für die nächste Nerd-Party: die Grimms waren Sprachwissenschaftler und haben zwar das erste deutsche Wörterbuch, aber mitnichten die Märchen ihrer Sammlung geschrieben – diese stellen nur Niederschriften von mündlich tradierten Volksmärchen dar, die sie sich vom „einfachen Volk“ erzählen ließen): Fairy Quest liefert eine frische, subversive Neufassung des bekannten Universums, dessen reaktionär-tyrannische Züge (Stiefmütter sind immer böse, wilde Tiere müssen getötet werden, die Monarchie ist die einzig richtige Staatsform, in der Armut ungefragt existiert – noch mehr Beispiele genehm?) auf die Spitze getrieben und dadurch eindrucksvoll inszeniert werden. Humberto Ramos zeichnet diese Welt inhaltsgerecht nahe am funny-Stil, eckig und kantig, mit leichtem Manga-Einschlag – somit ein passender Beitrag (wenn auch nicht ganz taufrisch, das Original stammt aus dem Jahr 2010) für den neu gegründeten Popcom-Verlag, einem Unterlabel des ja rein auf Manga spezialisierten Tokyopop. Schön aufgemacht, mit Skizzen- und Pinup-Galerie, und somit für alle erwachsenen Fantasy-Freunde zu empfehlen. (hb)

Fairy Quest, Band 1: Gesetzlose
Text: Paul Jenkins
Bilder: Humberto Ramos
64 Seiten in Farbe, Hardcover
Popcom
14 Euro

ISBN: 978-3-8420-1807-5

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