„Made in Taiwan!“ Diese aufgeprägte Schrift zierte in meiner Kindheit durchaus viele Mitbewohner meines Zimmers, insbesondere die unweigerlich aus Plastik gefertigten Action-Figuren und ihre zugehörigen Fahrzeuge. Bald fanden wir heraus, dass es sich hier nicht um Schädlinge handelte, sondern um die Herkunftsbezeichnung – offenbar war man im damals noch unglaublich fernen Osten flinker, billiger und flexibler als in der seinerzeit noch heilen deutschen Industriewelt. Auch vor Ort erlebte manch einer Heranwachsender diesen Aufschwung, die Aufhebung des Kriegsrechts Ende der 60er, der folgenden Öffnung hin zu mehr Demokratie und der Emanzipation von der Kolonial-Fuchtel hin zur ebenso fraglichen Flagge des chinesischen Regimes, höchst subjektiv. Wie unsere Generationsgenossen den Aufbruch des Landes in die Zukunft begleiteten, das schildert Sean Chuang in seiner schönen autobiographischen Graphic Novel „Meine 80er Jahre“ anhand von repräsentativen Episoden.
Wie der Titel schon sagt, erleben wir die Geschichte hier nicht in Haupt- und Staatsaktion, sondern in höchst persönlichen, kleinen Vignetten, in die Chuang seine Erinnerungen packt. Da fiebert die ganze Familie bei Baseball-Austragungen mit, wie das zu dieser Zeit hierzulande nur noch Gerd Müller & Co. zuwege brachten – weil das sportliche Feld das erste war, mit dem das bitterarme Land aus dem Schatten treten konnte. Man kann sich erste kulturelle Dinge erlauben, wie etwa die Klavierstunden, die sich die Mutter gönnt und zu denen der kleine Sean jeweils per Zug mit anreist. Der Boom der Actionfiguren steht ebenso stellvertretend für den langsam aufkeimenden Wohlstand: lange bevor Transformers auch bei uns Einzug hielten, bildeten formwandlerische Superroboter das unerreichbar scheinende Ziel der Kinder, und Sean gelingt es als einem der wenigen Glücklichen, einen davon zu erhaschen. Weil er sich lieber die Zeit in Spielhallen mit frühen Arcade-Games im Stile von Space Invaders vertreibt, schafft es Sean „nur“ an die Kunstschule in Taipeh, wo er trotz harschen Haarschneide-Regimes – alle vier Wochen wird geschoren – sein Zeichentalent ausleben kann. Bruce Lee avanciert einstweilen zum Nationalheld, der nicht nur trefflichen Kampfsport gegen Chuck Norris, sondern auch klare politische Positionen gegen die verhassten Japaner bezieht. Eher holprige erste Begegnungen mit dem anderen Geschlecht (die Brieffreundin stellt sich als durchaus hässlich heraus), Abenteuer auf einer geliehenen Vespa und die ersten Gehversuche in der eigenen Wohnung runden das Bild einer Jugend ab, auf die der erwachsene Sean eingangs durchaus wehmütig zurückblickt, da die Sorglosigkeit und Freiheit längst ersetzt wurden durch Hektik im Beruf, Familienstress und Wohnungskredit…
Im Gegensatz zu anderen, historisch verorteten Graphic Novels, wie etwa ‚Ein Schöner Kleiner Krieg‘ von Marcelino Truong, betont der 1968 geborene Chuang, der hauptberuflich als Werbefilmer tätig ist und 1995 als Comicautor debütierte, ganz absichtlich die private Sichtweise des Geschehens. Seine Episoden, die von 1976 bis Mitte der 90er spielen, entfalten sich zwar vor dem Hintergrund des langsam aufkommenden Wohlstand des Landes, der sich in Kinos äußert, die nicht nur Kung Fu-Filme, sondern zunehmend auch US-Produktionen wie ‚Die Rückkehr der Jedi-Ritter‘ zeigen, in immer raffinierteren Computerspielen, in plötzlich erschwinglichen Motorrädern und dem Umzug in die Großstadt Taipeh. Im langsam aufkeimenden schulischen Leistungsdruck nimmt Chuang den heute sattsam bekannten Drill vorweg, mit dem sich Asiens Elite den Weg an die Universitäten der Welt bahnt und der auch hierzulande in Form von Pisa nicht mehr gänzlich entlegen ist.
Aber durch den privaten Fokus erreicht Chuang neben diesen lokalen Fixpunkten eine Allgemeingültigkeit, die weit über eine Schilderung des asiatischen Aufschwungs hinausweist: die unerreichbar scheinenden, teuren Spielzeuge (dort Kampfroboter, bei uns war das die Carrera-Bahn, die nur wenige Auserwählte zu ihren Schätzen zählen durften – ich gehörte dazu), ein langsam derangierter Roger Moore als James Bond, die lustigen Versuche im Breakdance, das Macho-Gehabe auf dem Moped, die ungeschickte Annäherung an Mädchen, all das gehörte in den späten 70ern und frühen 80ern zum Erwachsenwerden, egal ob in Asien oder Aschaffenburg, wodurch Chuang weniger für ein Land als für eine ganze Generation spricht. Die schwarz-weiß-Zeichnungen wirken dabei in den Figurendarstellungen oft expressiv, vor allem in der Pubertäts-Zeit überdreht und großformatig, um die platzende Energie oder auch die schulischen Nöte expressiv darzustellen. Ein Erzählerkommentar wechselt mit Dialogszenen und führt flott durch die teilweise amüsanten, teilweise nachdenklichen, aber immer eindrucksvollen Episoden des Heranwachsens in einer turbulenten Zeit.
Der Comicroman, der im Original 2013 erschien, liegt hier in einer zweisprachigen Ausgabe vor, die die chinesische Vorlage zur deutschen Übersetzung hinzufügt, die von Marc Hermann flüssig zu lesend und mit Fußnoten versehen besorgt wurde. Ein schönes Beispiel dafür, dass auch scheinbar exotische Beiträge Lesefreude und Wiedererkennungswerte bringen können. (hb)
Meine 80er Jahre. Eine Jugend in Taiwan, Band 1
Zweisprachige Ausgabe Deutsch-Chinesisch
Text & Bilder: Sean Chuang
192 Seiten in schwarz-weiß, Taschenbuch
Chinabooks E.Wolf
16 Euro
ISBN: 978-3-905816-59-4