Saigon. Hanoi. Ho Chi Minh. 1961. In diesem Spannungsfeld, das gerade an der Schwelle zur Explosion steht, kommt der kleine Marcelino Truong nach Vietnam. Sein Vater Khanh ist Diplomat und wird von der südvietnamesischen Regierung aus Washington zurück nach Saigon versetzt, um dort Staatschef Ngo Dinh Diem mit Rat und Tat und vor allem Übersetzungskünsten zur Seite zu stehen. Khanhs französischer Frau Yvette gefällt das ganz und gar nicht, von Anfang hat sie Bedenken, in das Gebiet zu reisen, in dem sich die Weltmächte USA und UdSSR zu einem Stellvertreterkrieg anschicken. Zuerst verläuft alles noch einigermaßen ruhig, Khans Eltern kümmern sich mit um die Kinder der spätestens seit einer erneuten Schwangerschaft zunehmend gestressten Yvette, die sich an dem im Rahmen der Operation Beef Up gelieferten Kriegsgerät der Amerikaner nicht satt sehen können, an den Skyraiders, Bananenhubschraubern und später Hueys, die zu Sinnbildern des Krieges werden sollten. Nebenbei erlebt die Familie die zunehmende Zuspitzung des Konfliktes: auf der einen Seite eine radikalisierte Armee, die den als zu lasch empfunden Präsidenten Dinh und seine nur noch als „Madame“ bezeichnete Ehefrau Madame Nhu in einem spektakulären Fliegerangriff auf den eigenen Präsidentenpalast am 27.02.1962 vergeblich zu entfernen versucht. Und auf der anderen Seite die von den Kommunisten aus dem Norden mit utopischen Zukunftsversprechen infiltrierte Widerstandsbewegung, die über den Ho Chi Minh-Pfad mit Truppen und Waffen aufgerüstet werden.
Yvette versinkt immer mehr in ihren Stimmungsschwankungen, die sich in der Rückschau als manische Depression herausstellen, worunter die vier Kinder und die Bediensteten leiden, während Vater Khanh stets versucht, beschwichtigend einzuwirken, obwohl es immer häufiger zu Attentaten in Saigon kommt und die Propaganda-Maschinerie auf Hochtouren läuft. Zum Wendepunkt kommt es schließlich, als die Amerikaner 300 Vietcong aus dem Dorf Ap Bac vertreiben wollen und dabei eine herbe Schlappe einstecken müssen. Yvette schlittert vollends in die Krise, die Familie flieht in die Ferien nach Nha Trang, aber die Realität ist unerbittlich: nachdem sich auch die Buddhisten, von den Kommunisten aufgehetzt, gegen das Diem-Regime Stellung beziehen und Madame dies eher sarkastisch würdigt, betreiben die USA die Absetzung der Regierung und steigen nach Kennedys Ermordung 1963 endgültig in den Krieg ein. Zu diesem Zeitpunkt befindet sich wenigstens Marcelino längst in Sicherheit: Khanh ist von Diem, der die desolate Verfassung von Yvette erkannt hat, nach London geschickt worden und ist dort zwar ein Fremder, aber zumindest nicht mehr im Kriegsgebiet. Im Oktober 1964 quittiert sein Vater endgültig den diplomatischen Dienst und erlebt als Übersetzer bei Reuters die weitere Eskalation der Kämpfe, die erst mit Nixons Besuch in China 1972 zumindest aus amerikanischer Sicht ein Ende fanden.
Marcelino Truong zeichnet in dieser faszinierenden autobiographischen Graphic Novel seine eigene Kindheit nach: aus Gesprächen mit seinen Eltern, die in flash forwards und Epilogen ins Geschehen eingebaut sind, sowie aus Briefen seiner Mutter, die er teilweise zitiert, rekonstruiert er die Ereignisse, die er im Kindesalter zwar erlebte, aber in der Regel nicht verstand. Dabei verwendet er in keinster Weise die literarische Technik, die Welt aus Sicht des Kindes entlarvend zu sehen – ganz im Gegenteil fügt er durch rückblickende Kommentare, Unterhaltungen und teilweise ausführliche Hintergrund-Darstellungen (die teilweise fast schon essay-haften Charakter annehmen) die ganze Komplexität des Südostasien-Konfliktes zusammen und liefert so einen aufschlussreichen Zusammenprall zwischen der geschichtlichen Realität, der zwischen Hoffnung, Naivität und Bedrohung schwankenden Einschätzung der Erwachsenen und der Sicht der Heranwachsenden, die sich am Spektakel der Flugzeugträger, Hubschrauber und Gewehre erfreuen und den Konflikt spielerisch nachstellen.
Dabei vermeidet es Truong bewusst, Partei zu ergreifen – das kommunistische Regime in Hanoi und seine unkritischen westlichen Verteidiger erscheinen genauso fraglich wie die amerikanische Intervention, die nicht zuletzt von wirtschaftlichen Interessen geleitet war, und die Diem-Herrschaft, die ihre ganz eigene Form der Autokratie darstellt. Die Leidtragenden sind wie in jedem Krieg die einfache Bevölkerung, die von der Entwicklung wie von den US-Panzern überrollt werden. Für diese Interpretation bedient sich Truong geschickt interkultureller Querverweise, über Kurosawas ‚Sieben Samurai‘, die als Vorbild für die Befestigung der so genannten Wehrdörfer angeführt sind, bis hin zur Episode der Kultserie ‚Star Trek‘, an die der Name der Graphic Novel angelehnt ist: in ‚A Private Little War‘ (deutsch Der erste Krieg) muss Captain Kirk feststellen, dass die Klingonen auf einem eigentlich friedlichen Planeten eine Volksgruppe aufrüsten und damit das Gleichgewicht der Kräfte ins Wanken bringt. Widerwillig beschließt Kirk, seinerseits Waffen an die Gegenseite zu liefern und somit „Schlangen im Garten Eden“ auszusetzen, wie er sich ausdrückt – und wozu dieser Versuch der Abschreckung letztendlich führte, das erleben wir in Truongs bild- und wortgewaltiger Erzählung über seine private Kindheit vor einem historischen Hintergrund mehr als deutlich. (hb)
Ein schöner kleiner Krieg
Text & Bilder: Marcelino Truong
272 Seiten in Farbe, Hardcover
Egmont Graphic Novel
24,99 Euro
ISBN: 978-3-7704-5517-1