Herr der Affen, Band 1 (Splitter)

April 23, 2014

Herr der Affen - John Arthur Livingstone, Band 1

London im ausgehenden 19. Jahrhundert. John Arthur Livingstone gilt als lebende Sensation, hat er doch als schiffbrüchiges Findelkind seine Jugend im Dschungel von Borneo unter der Obhut von Orang-Utans verbracht. Allabendlich beantwortet er geduldig die teilweise spottenden Fragen der Londoner Intellektuellen, deren Weltbild gerade durch die Lehren Charles Darwins diverse gehörige Sprünge bekommen hat. Aber Livingstone ist nicht der einzige Fremde, der die Stadt in Atem hält: eine Serie von brutalen Morden erinnert fatal an den berüchtigten Aufschlitzer, der erst vor kurzem diversen Prostituierten in Whitechapel einen grausigen Garaus machte. Problem nur: die neuen Opfer werden zwar jeweils nach einem Schäferstündchen ermordet, allerdings in keinster Weise verstümmelt. Ganz im Gegenteil drapiert der Täter jeweils die prachtvolle Oberweite der Damen in besonders geschmackvoller Weise. Hat man es mit einem Serienmörder zu tun, der schmerzlich die Liebe einer menschlichen Mutter vermisst? Was hat es mit den Gerüchten auf sich, immer wieder werde eine Gestalt gesehen, die sich aus einem Gentleman in ein Monstrum und wieder zurück verwandle? Livingstone, den bald zarte Bande zu einer seiner Zuhörerinnen verbinden, erscheint dabei genauso zwielichtig wie der Täter, den Scotland Yard alsbald präsentiert – was allerdings keinesfalls das Ende der Mordserie bedeutet…

Nur festzustellen, Philip Bonifay (Zoo, im Carlsen Verlag) veranstalte hier ein Feuerwerk von literarischen und geschichtlichen Verknüpfungen, wäre eine maßlose Untertreibung. Dass Livingstone – der eigentlich Franzose ist und Saturnine Farandoul heißt – einen astreinen Blutsbruder von Lord Greystoke (auch genannt Tarzan) abgibt, muss nicht erwähnt werden. Seine Geschichte entspricht dem ruppigen Kolonialismus der Engländer: man läßt das Kind nicht anders sein, sondern entreißt es seiner Dschungel-Heimat, seiner ersten Liebe und somit seiner Herkunft. Gegen jeden Widerstrand verfrachtet man es nach England, verpaßt ihm einen für englischen Forscherdrang und Welteroberungsgelüste bedeutungsschwangeren Namen (komplett mit einem Zitat einer der wohl berühmtesten Entdecker-Aussprüche aller Zeiten, „Mr Livingstone, I presume?“) und beraubt ihn somit seiner Identität. Wie der Elefantenmensch Joseph Merrick wird er zur Wissenschaftsattraktion, der der verlogenen Gelehrtenwelt den Spiegel vorhält: er selbst ist frei, vital und authentisch, die ihn als Kuriosum betrachtenden Bürger sind die eigentlich im Käfig ihrer Konventionen Gefangenen. Ungehemmt lebt er seine Sexualität aus und bekennt sich zur Sinnlichkeit – was ihn gleichzeitig verdächtig macht, die Morde zu verüben, die das Volk immer wieder dem literarischen Mr Hyde andichten möchte. Was auf den letzten Seiten dieses ersten Bandes nun auch wieder als nicht so unmöglich erscheint wie man vielleicht denken möchte.

Bonifay gelingt damit ein dichtes Netz von Anspielungen, Verweisen und ein intelligentes Spiel mit literarisch-geschichtlichen Elementen, die sich neben Fragen zu Freiheit und Identität, Kolonialismuskritik und Bloßstellung von Heuchlerei und Doppelmoral der viktorianischen Zeit zu einer packenden Story zusammenfügen, die Fabrice Meddour (Ganarah, ebenfalls bei Splitter) in eine üppige, direkt kolorierte, überwuchernde Bildersprache übersetzt, in der der kleine Saturnine den Dschungel umhertollt und der junge Livingstone als ungezähmtes Tier das nächtliche London durchstreift. Eine mitreißende Geschichte also, und ein fürstliches Vergnügen für Freunde der intelligenten Unterhaltung obendrein. Der abschließende Band 2 ist in Vorbereitung. (hb)

Herr der Affen – John Arthur Livingstone, Band 1
Text: Philippe Bonifay
Bilder: Fabrice Meddour
56 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
14,80 Euro

ISBN: 978-3-86869-662-2

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