Die Geschichte der Science-Fiction (Splitter)

Dezember 1, 2021
Die Geschichte der Science-Fiction  (Splitter Verlag)

Utopien, Dystopien, Zukunftsvisionen, soziale Zerrbilder, Satiren: die Spielarten der phantastischen Literatur, auch genannt Science Fiction, sind schier unendlich – und die Geschichte des Genres fast so alt wie die Literatur selbst. Umso furioser ist der kühne Wurf, den Xavier Dollo und Djibril Morissette-Phan hier unternehmen: nichts weniger als eine umfassende Historie der SF bietet dieses Kaleidoskop, das mit einem Auftritt von Arthur C. Clarke beginnt, der im Dialog mit HAL 9000 ins Geschehen führt. Von den Anfängen in der Antike mit den „Wahren Geschichten“ des Lukian von Samosata schlägt Dollo den Bogen über Klassiker wie Jonathan Swifts „Gullivers Reisen“ (im Original ja vier anstelle der gemeinhin bekannten zwei Ausflüge), Cyrano de Bergeracs Mondberichten und Mary Shelleys epochalem Schauerroman „Frankenstein“ bis hin zu den beiden Gründungsvätern der modernen SF – Jules Verne und H.G. Wells.

Während Verne mit Technikbegeisterung und wissenschaftlicher Hellsichtigkeit die Massen mit Reisen unter den Meeren, zum Mittelpunkt der Erde oder zum Mond begeistert, verkleidet Wells in seinen „scientific romances“ über Zeitmaschinen, Unsichtbare und Kriege der Welten kaum kaschierte, harsche Sozialkritik am England seiner Gegenwart. In den 20er Jahren erfährt das Genre dann mit den von Frank Munsey und Hugo Gernsback herausgegebenen Pulp-Magazinen vom Schlage „Argosy All Stories“ eine erste wirkliche Blüte in den USA – zu den Stars zählen bald Autoren wie Robert E. Howard mit seinem ruppigen Conan und H.P. Lovecraft mit seinen Uralten um Cthulhu, aber auch Edgar Rice Burroughs, der nicht nur den Dschungelfürsten Tarzan, sondern auch John Carter ersinnt, der mit einer Marsprinzessin exotischste Abenteuer erlebt, bevor EE „Doc“ Smith mit dem Lensman-Zyklus und Edmond Hamiltons „Captain Future“ die Space Opera nach heutiger Lesart begründen.

Während die Strömung der „merveilleux scientifique“ in Frankreich zwar existiert (angeführt von Rosny Ainé, dem Erfinder des Wortes „Astronaut“, der u.a. „La Guerre du Feu“ liefert, das Jahrzehnte später als „Am Anfang war das Feuer“ das Kinopublikum begeisterte), aber nie zur richtigen Bewegung wird – zu wenig Beachtung, keine Pulp-Magazine, Zäsur der Krieges – biegt das Genre unter der Ägide des Herausgebers John W. Campbell und seinem Magazin „Astrounding Science Fiction“ in den späten 30ern in ein wahrhaft Goldenes Zeitalter ein. Campbell, selbst Autor der epochalen Story „Who Goes There?“ von 1938 (einem Massenpublikum bekannt als „Das Ding aus einer anderen Welt“), versammelt mit kenntnisreichem Blick die führenden Köpfe der amerikanischen Szene um sich. Isaac Asimov definiert und revolutioniert die Roboter-Geschichten inklusive der drei Gesetze der Robotik, Theodore Sturgeon und AE van Vogt steuern viel beachtete Beiträge bei, während Robert A. Heinlein zum König der Mond-Utopien avanciert.

So nimmt die SF weiter Fahrt auf, begleitet durch den Kinoboom der 50er, in dem Invasionsfilme und Space Operas Konjunktur haben. In den 60ern schließlich erobern Autoren wie Frank Herbert und Philip K. Dick zunehmend auch ein intellektuelles Publikum: Romane wie „Dune“ oder „The Man In The High Castle“ öffnen der SF Wege, die sie bis heute erfolgreich beschreitet…

Die Herkulesaufgabe, die Geschichte eines ganzen Genres aufzuspannen, meistert das Duo Xavier Dollo und Djibril Morissette-Phan absolut bewundernswert. Anstelle einer enzyklopädischen Auflistung oder eines rein geschichtlichen Abrisses bietet das Duo nämlich eine Collage von Szenen, in denen entweder die Schöpfer selbst zu Wort kommen – so etwa treffen sich die Herren Asimov, Heinlein, Vogt und Sturgeon im 4D-Haus von Jon Campbell und lassen ihre Geschichte und Werke Revue passieren, von der harten Auslese durch Campbell bis zum endgültigen Erfolg – oder Elemente aus den Romanen inklusive der Protagonisten nachgestellt sind. Dem Erfindungsreichtum scheint dabei keine Grenze gesetzt: neben Szenen aus Filmadaptionen (James Whales „Frankenstein“, George Pals „Destination Moon“, Fritz Langs „Metropolis“ als Archetyp) stehen dabei jeweils auch kurze bibliographische Hinweise auf die Hauptwerke, anhand derer sich die jeweilige Epoche am besten repräsentativ ergründen lässt.

Hugo Gernsback, bekannt für seine Knausrigkeit, fliegt dabei mit einer 3D-Brille durch seine Schöpfungen, bei Wells Zeitmaschine erscheint neben der filmischen Variante von George Pal auch der DeLorean aus „Zurück in die Zukunft“ und der gerade aus der Zukunft gelandete Terminator. Heinlein erzählt, dass er eigentlich Fritz Lang als Regisseur für die Filmversion seines „Rocketship to the Moon“ haben wollte, Jules Vernes „Robur der Eroberer“ durchschwebt mit seinem phantastischen Luftschiff das Firmament – die Vielzahl der Referenzen, Anspielungen, Darstellungen, Querverweise und schlichtweg die Fülle an unterhaltsam dargebotenen Material lässt sich schwerlich beschreiben. Da bleibt eigentlich nur eines: jeder halbwegs SF-Interessierte kann, soll und muss sich in diesen großformatigen, voluminösen Band vertiefen – auf die Gefahr hin, dass eine kaum noch zu bewältigende Liste von Material herauskommt, dass man dringend (wieder) einmal lesen muss.

Ich fange dann mal mit Burroughs „A Princess Of Mars“ an, bevor ich mir die „Caves Of Steel“, Asimovs brillanten Roman um einen Roboter-Detektiv, nochmal vornehme. Und dann die wunderbar respektlose Stahlratte, die „Stainless Steel Rat“. Und die „Reise zum Mittelpunkt der Erde“. Und „Stranger in A Strange Land“. Wo soll das enden? (hb)

Die Geschichte der Science-Fiction
Text: Xavier Dollo
Bilder: Djibril Morissette-Phan
216 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
29,90 Euro

ISBN: 978-3-96219-103-0

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