Die Zeit der Wilden (Splitter)

November 16, 2021
Die Zeit der Wilden (Splitter Verlag)

Martine Laverdure ist Kassiererin im Supermarkt. Eine verbotene Liaison mit einem Kollegen wird ihr zum Verhängnis: Sie soll entlassen werden. Beim Entlassungsgespräch eskaliert die Situation. Martine stürzt und zieht sich dabei tödliche Verletzungen zu. Mindestens indirekt verantwortlich dafür ist Jean, der für die Sicherheitsabteilung des Marktes arbeitet. Martines erwachsene Söhne sinnen auf Rache. Sie sind Tier-Mensch-Hybride mit Wolfseigenschaften. Und haben es faustdick hinter den Ohren, was der brutale Überfall auf einen Geldtransport beweist. Sie stürmen die Wohnung von Jean und seiner herrischen Frau Marianne. Während Jean entkommen kann, wird Marianne vom Wolfsrudel entführt. Bald knüpft sie zarte Bande mit dessen Anführer. Und Jean verguckt sich in Blanche, die interne Ermittlerin der Supermarkt-Kette. Doch der Rachedurst der Wolfsbrüder ist noch lange nicht gestillt…

Es sind seltsame Charaktere, die sich hier tummeln. Und noch seltsamer sind deren Verhaltensmuster, die fast allesamt von Gefühlskälte und Opportunismus gekennzeichnet sind. Irgendwann in wohl nicht ganz ferner Zukunft ist es möglich, wenn auch nicht (für jeden) legal, tierische mit menschlichen Genen zu mischen und den manipulierten Menschen damit Eigenschaften (und/oder Aussehen) des jeweiligen Tieres zu verleihen. Und damit auch dessen Kräfte. So sind die Wölfe, die pragmatisch-neutral Weiß, Grau, Braun und Schwarz heißen, außerordentlich stark und gebären sich gnadenlos wie Raubtiere, während Marianne, die Gene der Grünen Mamba besitzt, Schlangengift produzieren kann. Aber diese seltsamen Kreuzungen und Eigenschaften sind nicht Kern des Bandes. Wir haben hier weder eine Fantasy/SciFi-Story à la Dr. Moreau noch eine neue Superhelden-Variante vor uns. Es dominieren stumpfe Gewalt, Kälte und irrationales Handeln, was durchaus verstörend wirkt.

So vermisst Jean seine Frau kaum. Wie auch umgekehrt – Marianne beschäftigt sich lieber mit ihrem Managerer/Marketing-Posten, als mit dem „Verlust“ ihres Mannes, inkl. massivem Stockholm-Syndrom. Jean zeigt auch keine großen Schuldgefühle ob seiner Tat. Er schaut eher aus wie ein Bub, als wie ein gestandener Mann und erweist sich als nicht gerade der Mutigste. Und sein Vater ist unter seinem Gamertag ein berühmter Videospiel-Zocker. Die Wölfe, deren Geldtransport-Coup von der Polizei kurioserweise nicht weiter verfolgt wird, sinnen auf dumpfe Rache, nicht nur an Jean. Martine, die Mutter, gab ihre Söhne für zwei Jahre weg, um arbeiten zu können. Blanche scheut sich – auch aufgrund tierischer Gene – vor einer Beziehung und erläutert lieber sozialpsychologische Theorien. Nur die Beziehung zwischen Martine und dem Kollegen (der Jacques Chirac heißt!), die so brutal beendet wird, scheint ehrlich und gefühlsecht. Und im Hintergrund agieren die übermächtigen Deutschen Supermarkt-Bosse, Zwillinge, denen Gewinnmaximierung über alles geht und die in den Albrecht-Brüdern (Aldi) reale Vorbilder haben.

Autor und Zeichner des Bandes ist Sébastien Goethals, der durch seine Graphic Novels „Das Spiel der Brüder Werner“ und „Die Reise des Marcel Grob“ bekannt wurde – beide erschienen ebenfalls bei Splitter. Mit „Die Zeit der Wilden“ adaptiert er einen Roman des belgischen Schriftstellers Thomas Gunzig, der nicht auf Deutsch vorliegt (übersetzt „Survival-Handbuch für Unfähige“). Sein Zeichenstil ist für Graphic Novels angenehm realistisch und detailliert. Vor allem mit den Actionszenen, die meist mit zerstörerischer Gewalt daherkommen und ohne viele Worte packend, filmisch mit schnellen Schnitten inszeniert sind, weiß er zu punkten. Inklusive dem Thriller-Finale. Dazwischen bremsen immer wieder wortreich dargebrachte, theoretische Diskurse und Monologe den Handlungsfluss. Ein in Teilen unbequemer und damit auch ungewöhnlicher Band voller kurioser Allianzen und unsympathischer Protagonisten in einer am Ende sprichwörtlich kalten Welt. (bw)

Die Zeit der Wilden
Text: Sébastien Goethals, Thomas Gunzig
Bilder: Sébastien Goethals
272 Seiten in Schwarz-Weiß/viragiert, Hardcover
Splitter Verlag
39,80 Euro

ISBN: 978-3-96792-048-2

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