Gegen den Strom (Carlsen)

Juli 10, 2012

Unsere Bildergeschichten kommen im Wesentlichen aus drei Comic-Ballungszentren. Da sind zum einen Frankreich & Belgien: hochwertige Bandes Dessinées im Albenformat (meistens). Zum anderen aus den USA: Superhelden im Heftformat (auch meistens). Und schließlich aus Japan: Mangas im Taschenbuchformat (ja, auch meistens). Während der geneigte Comicleser über die Historie der franko-belgischen und amerikanischen Comics bestens bescheid weiß, klafft beim japanischen Manga-Werdegang eine große Wissens-Lücke – die überflüssige Ja-oder-Nein-Grundsatzdiskussion in Sachen Manga lassen wir mal außen vor. Carlsen hat in der Vergangenheit diese Diskussion ohnehin schon aufgeweicht und die Lücke auch etwas gefüllt, indem Mangas unter dem allseits populären Graphic  Novel Signet veröffentlicht werden. Dies betrifft in erster Linie Werke von Osamu Tezuka (Kimba, Buddha) und von Jiro Taniguchi (Vertraute Fremde, Der spazierende Mann). Alle übrigens in westlicher Leserichtung. Aber auch Mangas für die reifere Leserschaft, wie Lady Snowblood und das grandiose Shinanogawa, die nicht als Graphic Novel firmieren,  sollen hier erwähnt werden (alle in japanischer Leserichtung).

Jetzt bringt Carlsen einen wahrhaftigen Monsterband, ein heißer Kandidat für das dickste Comic des Jahres, der endgültig Licht ins Manga-Historien-Dunkel bringt: Gegen den Strom ist auf 848 (!) Seiten eine Autobiographie in Bildern.  Sie umfasst das Leben des Mangaka Yoshihiro Tatsumi (Jahrgang 1935) von unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg bis Anfang der 1960er Jahre. Er schildert seine Geschichte vom Manga-beigeisterten Fan-Zeichner bis zum anerkannten Sensei.  Denn Tatsumi war stilbildend (auch wenn er sein Licht im Nachwort sympathisch bescheiden unter den Scheffel stellt) und begründete 1957 ein eigenes Genre, das er Gekiga nannte (und nennt): Mangas für eine ältere Leserschaft – weg von dem, was wir im Westen Funny nennen würden, hin zu reiferen Themen und Zeichnungen, die durchaus auch Gewalt und Erotik beinhalten können. Wie eben die o.g. Titel.

So erlebt der Leser aus erster Hand eine akribisch aufgezeichnete (und durchaus auch mit Längen versehene) sehr persönliche Geschichte eines Zeichners, die gleichzeitig in einem fast dokumentarischen Stil die Entwicklung des Manga in den 1950er Jahren schildert. Wir erleben die frühe, ehrfürchtige Begegnung mit Osamu Tezuka, der bereits als Student eine Berühmtheit war. Wir erfahren, was ein Vier-Panel-Manga und ein Postkarten-Manga ist und was es mit den Leihbuch-Mangas auf sich hat. Daneben erhält der Leser auch einen interessanten Einblick in den Alltag und in das zeitgenössische Japan aus Sicht eines Jugendlichen (die Einführung des Fernsehens, Godzilla!, das Aufkommen von Coca Cola und die fortschreitende Amerikanisierung der Gesellschaft), als das Land nach dem Krieg am Boden liegend auf den langen Weg zur Wirtschaftsmacht aufbrach.

Ein dickes Ding, das zwei Eisner Awards erhielt und auf dem Festival in Angoulême ausgezeichnet wurde und das aufgrund der hochwertigen Präsentation auch nicht billig ist. Das aber den mutigen und interessierten Käufern mit ganz viel Lesestoff und Manga-Wissen aus erster Hand versorgt. (bw)

Text & Zeichnungen: Yoshihiro Tatsumi
848 Seiten in schwarz-weiß, Hardcover
Carlsen Verlag
44 Euro

ISBN: 978-3-551-73104-3

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