Ganz Allein (Carlsen)

August 24, 2011

Irgendwo vor Frankreich im Meer steht auf einem einsamen Fels ein Leuchtturm, der seit Jahren seine Arbeit automatisiert verrichtet. Doch verbirgt er etwas. Einen Menschen, der auf dem Leuchtturm geboren wurde und der nie etwas anderes sah und nie den Ort seiner Geburt verließ. Denn er kam mit Missbildungen zur Welt und wurde von seinen Eltern vor der Welt verborgen. Die wenigen die von seiner Existenz wissen, nennen ihn Ganz Allein, sein richtiger Name ist unbekannt.

In seiner – extrem kleinen – Welt besitzt er das, was ihm seine Eltern hinterließen und das, was das Meer preisgibt: Einen Tennisball, einen Ast, einen Schuh. Sein einziger Gefährte ist ein Fisch in einem Wasserglas. Sein Wissen hat er aus einem dicken, alten zerfledderten Lexikon, das gleichzeitig die Quelle seiner Fantasie ist. Wahllos pickt er Begriffe heraus und lässt seiner Einbildungskraft freien Lauf.

Der Kontakt zur Außenwelt beschränkt sich auf zwei Kisten. Darin befinden sich Lebensmittel, die ein Fischer wöchentlich auf den Landesteg des Leuchtturms stellt. Denn er versprach vor Jahren dem Vater des Jungen, sich um diesen zu kümmern. Inzwischen dürfte Ganz Allein so um die fünfzig sein, doch gesehen hat ihn der Fischer noch nie. Als der Fischer einen Helfer einstellt, einen ehemaligen Häftling, beginnt dieser, sich für Ganz Allein zu interessieren. Er hinterlässt ihm mit den Kisten eine Nachricht, die seine kleine, begrenzte Welt und den immer gleichen Alltag nachhaltig erschüttert… zum Guten – oder zum Schlechten?

Tja, Comicfremde und Graphic-Novel-Einsteiger dürften es mit dem dicken Band ganz schwer haben. Denn der ist anders, als es die Schublade, in der er mit dem Aufdruck Graphic Novel gesteckt wird, vermuten lässt. Und doch ist es eine der wenigen Veröffentlichungen, die den Namen Graphic Novel wirklich verdienen. Denn Ganz Allein kommt mit ganz wenig Text aus. Es dauert etliche Seiten, bis die ersten Worte fallen und die Hauptperson spricht erst auf Seite 145. Und zeigt gleich, dass es sich um keinen verblödeten Einsiedler handelt. Hier ist die Comicsprache gefragt. Und das dürfte die Buchhandelsklientel, die ja mit dem Label Graphic Novel angesprochen werden soll, überfordern oder gar langweilen. Denn Christophe Chabouté, der bereits mit ‚Fegefeuer’ (erschienen bei Ehapa) beeindruckte, lässt sich sehr viel Zeit für seine Geschichte. In fast filmischen Abfolgen lässt er zur Einführung das Auge des Betrachtern über den Leuchtturm schweifen. Oder er lässt die „Kamera“ in mehreren Panels in der gleichen Einstellung, etwa beim An- und Ablegen des Bootes, verharren. Ein Buch fürs Auge also. Zum sehen und genießen.

Und dann ist da die Fantasie die Hauptperson, des Einsamen, der sich seiner Einsamkeit lange nicht bewusst ist. Die Gedanken, die durch Begriffe aus dem Lexikon entstehen, werden visualisiert, wie es dessen beschränkte Welt zulässt. Da wird Konfetti tellergroß, Neil Armstrong sitzt in riesiger Gestalt ohne Anzug auf dem Mond und die Oboe besitzt Schlüssel zum Verschließen der Grifflöcher.

So ist es dann auch bezeichnend, dass der neue Matrose, ein Ex-Sträfling, der weiß wie es ist, eingeschlossen zu sein, versucht, in die Welt von Ganz Allein einzubrechen. Das Ergebnis? Bitte selbst lesen. Es lohnt sich. Ach, und bloß nicht die Carlsen Vorschau im Netz lesen – die verrät viel zu viel! (bw)

Text & Bilder: Christophe Chabouté
370 Seiten in schwarz/weiß, Hardcover, Buchformat
Carlsen Verlag
29,90 Euro

ISBN 978-3-551-78373-8

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