Frankreich 1346: zwischen Frankreich und England herrscht Krieg. In der entscheidenden Schlacht bei Crécy kommt Franzosenkönig Philippe zu Fall, aber Juan Fernández de Heredia bietet ihm selbstlos sein Pferd an – auch wenn dies für ihn selbst den sicheren Tod bedeutet. Während er von den feindlichen Waffen durchbohrt wird, träumt er gar Absonderliches: anstelle des Schwertes fühlt er sich von einen Einhorn aufgespießt und überlebt gegen alle Wahrscheinlichkeit die Angriffe. Völlig verwirrt folgt er dem Einhorn, das offenbar nur für ihn sichtbar ist, bis zur Küste, wo er von den Engländern aufgegriffen und gefangen genommen wird. Gut ein Jahr lang hält ihn Edward von Woodstock, Sohn von König Edward, als Geisel in Aquitanien, um ein stattliches Lösegeld zu erpressen. Während dieser ganzen Zeit macht Juan gar keine Anstalten, befreit werden zu wollen – vielmehr bedeckt er die Wände der Zelle mit Zeichnungen des Einhorns, dem er in Freiheit folgen müsste. Als ihn sein König nach langen Monaten endlich freikauft, geschieht genau das: er erblickt das Einhorn und beginnt eine verzweifelte Jagd auf das Fabeltier. Wie besessen ist der davon, endlich eine Antwort auf die Frage zu bekommen, warum er überlebt hat. Er lebt wie in Wilder in den Wäldern, die Bauern halten ihn für den Teufel, aber das Einhorn entgeht ihm immer wieder.
1347, Cevennen: die Pest grassiert, Juan lebt als Verrückter im Wald, spricht mit Äpfeln und fragt diese nach dem Einhorn, das er in Visionen in den Wolken sieht. Als ihm die adlige Marie aus Gnade im Winter einen Mantel schenkt, sieht er seine Chance gekommen: des Nachts bricht er in die Burg ein und droht sie von den Zinnen zu stürzen – immerhin ist sie Jungfrau, und Einhörner beschützen Jungfrauen, aber auch diese Verzweiflungstat bringt ihn seinem Ziel nicht näher. Ein entstellter Einsiedler, nebenbei religiöser Fanatiker, schließlich bringt ihn dann auf eine vielversprechende Spur: das Einhorn stamme aus der Hölle und schicke sich an, Christus erneut zu bedrohen. Juan solle den Papst aufsuchen und ihn vor der Erscheinung warnen. Das bringt den Ritter halbwegs wieder zu sich selbst: 1348 hat er sein Eremitendasein aufgegeben und seine alte Rolle als Militärführer aufgenommen. In Avignon, wo sich der Papst vor der Pest verschanzt, trifft er auf ein Kind, dessen Eltern von der rasenden Menge auf den Scheiterhaufen geschafft werden. Der weise Großvater des Mädchens, den Juan mit dem Mädchen im Gefängnis aufsucht, erzählt dem Ritter schließlich seine Version des Mythos vom Einhorn – die Variante des Talmud, in der das Einhorn von Noah nicht mit auf die Arche genommen wurde. Diese Sichtweise bringt letztendlich den Schlüssel zur Erlösung für Juan…
Stéphane Piatzszek kommt in seiner symbolträchtigen Geschichte in weiten Strecken ohne Dialoge aus, entscheidende Szenen wirken hier ohne Worte, was eine magisch-traumhafte Atmosphäre erzeugt. Der historische Hintergrund schwingt zwar genau definiert mit, ist allerdings für die Thematik in keinster Weise entscheidend – statt eines Historiendramas geht es nicht etwa um Fantasy-geschwängerte Heile Welt-Romantik, sondern um das zeitlose Trauma des Überlebenden, die Schuldgefühle, die diejenigen plagen, die Katastrophen überstehen – warum ich? Warum mussten die anderen sterben? Entgegen seiner Verehrung als Held sieht sich Juan folgerichtig als Sünde der Natur, als widerrechtlich Lebender, der das Schicksal, symbolisiert im Einhorn, nicht zu ergründen vermag. Erst eine andere philosophische Sichtweise bringt ihm den Frieden, dem er jahrelang nachjagt. Inszeniert ist dieser bedeutungsschwere Reigen von Guillermo G. Escalda wie ein Ölbild, mit ausdrucksstarker Farbgebung, voller eindrucksvoller Motive und suggestiver Stimmungen. Ein magisches Werk wie eine große Illusion. Wundervoll. (hb)
Der Ritter und das Einhorn
Text: Stéphane Piatzszek
Bilder: Guillermo C. Escalada
56 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
14,80 Euro
ISBN: 978-3-95839-306-6