Zorngebete (Splitter)

August 9, 2016

Zorngebete (Splitter)

Dialoge mit Gott sind so eine Sache. Vor allem, weil das meistens gar keine sind, sondern eher Einbahnstraßen statt Unterhaltungen. Das hält die junge Jbara aber nicht davon ab, rege mit Allah zu plaudern. Jbara ist 16, hübsch und lebt nach eigenen Worten am Arsch der Welt, in Tafalit. Weil die Familie – bestehend aus vier Brüdern und drei Schwestern nebst Eltern – Schafhirten und somit bitter arm sind, verdient sich Jbara ein bisschen was nebenher, indem sie ihren Hintern den Hirten anbietet, für ein paar ihrer geliebten Fruchtjoghurts. Allah solle da einfach nicht hinschauen, irgendwie habe sie ja keine Wahl – wenn sie in einer guten Familie in der Stadt zur Welt gekommen wäre, ja dann wäre das alles anders gelaufen, aber sie hatte einen verdammt schwierigen Start, das möge der Allmächtige doch bitte berücksichtigen.

Als der Bus in die Stadt Belsouss einen Koffer verliert, öffnet sich für Jbara das Fenster in eine andere Welt: das Gepäckstück Marke Dior enthält ungeahnte Schätze wie etwa Hüfthosen und String Tangas. Der Geschmack der großen Welt kann allerdings nicht lange über die Realität hinwegtäuschen: Durch ihre Aktivitäten mit den Hirten wird sie schwanger und für diese Sünde von den Eltern verjagt. Mit dem Bus fährt sie also wirklich in die Stadt und verdingt sich als Putzfrau – der Kellner besorgt ihr eine Stelle im Cafe Zitouni, gegen Gefälligkeiten versteht sich. Damit ändert sich plötzlich alles für Jbara: sie hat Geld und kann sich Dinge kaufen – danke, Allah! Eines Nachts allerdings holt sie die Vergangenheit ein – sie bringt ohne jede Hilfe ihr Kind in der Gosse zur Welt und lässt es dort zurück. Fortan geht sie verschleiert nach draußen – verschleierte Frauen werden schließlich nicht belästigt – und arbeitet als Prostituierte. Sie verdient gut und ist sparsam, und als sie eine Stelle als Hausmädchen in Masmara antreten kann, ändert sich ihr Leben nochmals. In Diensten der Familie des reichen Sidi Slimane mit verzogenen Kindern und arroganter Ehefrau beginnt sie zu erkennen, wie ein wirklich sorgenfreies Leben aussehen kann.

Während der Sohn des Hauses Mohamed sich wie selbstverständlich an ihr vergeht, fragt sie Allah, ob ihr Schicksal wirklich unentrinnbar ist – ihre Entscheidungen waren nur logisch, die Alternative wäre ja immerhin ein Leben in der Gosse gewesen, und das kann ja auch nicht im Sinne des Herrn sein. Allmählich setzt bei Jbara eine Wandlung ein – sie wird immer selbstbestimmter, beschließt endgültig, ihren eigenen Weg zu gehen und erfährt ausgerechnet mit Mohamed, wie Zärtlichkeit aussehen kann. Auch wenn sie immer wieder Gewissensbisse wegen ihres vermutlich toten Kindes plagen, setzt sie weiter konsequent ihren Plan um, reich und selbständig zu werden. Als Stripperin in einem Nachtclub nimmt sie die Männer aus, unter dem Namen Sheherazade steigt sie zur gefragten Freudendame auf. Sie scheint am Ziel, als sie ein Scheich zu seiner Favoritin macht und seinen Wohlstand mit ihr teilt. Aber als die Polizei bei einer ausschweifenden Party des Scheichs urplötzlich zu einer Razzia auftaucht, stehen die Sterne gar nicht mehr so günstig…

In ihrer Adaption des Romans von Saphia Azzeddine liefern Marie Avril und Eddy Simon eine in jeder Form harsche Geschichte der Selbstfindung, einen modernen Entwicklungsroman, der nur scheinbar ein religiöses Zwiegespräch ist. Denn die glaubensbedingten Zwänge sind nur am Rande für das verantwortlich, was Jbara widerfährt. Vielmehr sind es Habgier, Bigotterie und Geschlechterrollen, gegen die sie aufbegehrt und denen sie teilweise erliegt, um sie letztendlich doch wenigstens teilweise zu besiegen. So stellt sich in Form eines inneren Monologs, der wie ein informelles Gebet wirkt (im Original lautet der Titel ja auch „Geständnisse an Allah“) die ewigen Fragen der Moralphilosophie: wird der Mensch von der Umwelt bestimmt, oder sind seine Grundzüge stets schon angelegt? Optisch kommt die Inszenierung dabei leicht stilisiert, mit atmosphärischer Farbgebung daher und schreckt weder vor expliziter Sprache noch vor schockierenden Bildern zurück. Ein eindrucksvoller Beitrag zu einem Kontext, dem es sehr gut tut, dass es einmal nicht um Weltpolitik und Terrorismus, sondern um Fragen der individuellen Existenz geht. (hb)

Zorngebete
Text: Eddy Simon, nach Saphia Azzeddine
Bilder: Marie Avril
88 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
18,80 Euro

ISBN: 978-3-95839-298-4

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