Das Nest, Band 9 (Carlsen)

Juli 9, 2015

Das Nest, Band 9 (Carlsen)

Winter in Notre-Dame am See, dem beschaulichen Dörfchen, irgendwo in der franko-kanadischen Provinz, in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Das Leben geht seinen gewohnten Gang. Die meisten Männer sind fort in den Wäldern, um Holz zu verarbeiten. Marie, die den Dorfladen führt, ist inzwischen hochschwanger und freut sich auf ihren Nachwuchs. Die Frauen beschließen, sich nach der aktuellen Stadt-Mode Charleston-mäßig einzukleiden. Pfarrer Réjean, der mit Noel Poulin an dessen Holzboot baut und keine rechte Lust mehr auf seinen eigentlichen Job hat, hält seine monatlichen Pflicht-Gottesdienste ab. Als der Schnee dann langsam schmilzt und sich der Frühling ankündigt, kommen die Männer heim und werden von ihren Frauen in bunten Kleidern überrascht. Man beschließt einen hölzernen Gehsteig zu bauen, damit die Damen mit ihren neuen Kleidern nicht durch den Matsch staksen müssen. Im Frühjahr fahren Serge und Pfarrer Réjean nach Montreal, um für Noel anlässlich der nahenden Schiffstaufe eine Überraschung zu besorgen, und finden sich dort als Paar wieder. Marie genießt inzwischen die ersten warmen Sonnenstrahlen. Dann ist es soweit: das Boot von Noel ist fertig und soll feierlich getauft werden. Ein großes Fest wird vorbereitet. Als sich dann eine Katastrophe anzubahnen scheint, bekommt Marie erste Wehen…

Nun, das klingt ja alles reichlich unspektakulär. Denn eigentlich müsste in Notre-Dame der Teufel los sein. Spannungen, Gerüchte, Getuschel, Vorverurteilungen, Gezeter, Mordio. Gibt es doch unter der überschaubaren Einwohnerzahl einen Pfarrer, der seinen Job nicht mehr mag. Dann ist Serge schwul. Und die verwitwete Marie schwanger, Vater (offiziell) unbekannt. Alles Dinge, die in der damaligen Zeit so gar nicht gingen. Konfliktpotential ohne Ende. Doch nichts dergleichen. Man ist tolerant und nett zueinander. Auch zu schrulligen Gestalten, wie den alten Schwestern Gladu, die im letzten Band einen Hammer-Tick verpasst bekommen haben, oder zu Gaetan, der geistig zurückgeblieben ist, rote Pumps trägt und als Koch wahre Meisterleistungen vollbringt. Auf sie alle nimmt man gegenseitig Rücksicht, findet für jeden eine Nische in der Dorfgemeinschaft.

So wirkt die Geschichte stets etwas märchenhaft und verklärt, weil es keine wirklich Bösen gibt, nie so richtig schlimme Dinge passieren und stets allgemeine Harmonie herrscht, bzw. immer diplomatisch herbeigeführt wird. Trotzdem – oder gerade deshalb liest man gerne Band für Band, quasi als positive Utopie, die in der Vergangenheit spielt. Als das Leben noch beschaulich, übersichtlich, aber auch beschwerlicher und entbehrungsreicher war. Doch Hand aufs Herz – wer glaubt denn wirklich, dass es einen Ort mit Menschen wie in Notre-Dame am See jemals gab? Aber ist nicht diese verklärte Harmonie, die mitunter knapp am Kitsch vorbei schrammt, genau das, was man in diesen unruhigen, konfliktbelasteten Zeiten gerne liest? Schön auch der immer wieder aufblitzende sanfte wie feinsinnige Humor, der oft mit einem Augenzwinkern präsentiert wird. So legt der Pfarrer als Buße lediglich ein Vater Unser auf. Das solle genügen, vorausgesetzt, man sage es langsam auf.

In Frankreich wird die Serie mit enorm aufwendigen und beeindruckenden Ausstellungen geehrt, in denen neben Originalseiten beispielweise der im Original titelgebende Laden (Magasin Général) oder Teile des Schiffs von Noel nachgebaut sind. Dort ist Régis Loisel auch ein ganz Großer seiner Zunft. Den Durchbruch schaffte er in der 80ern gleich mit seiner ersten Serie, der Fantasy-Mär ‚Auf der Suche nach dem Vogel der Zeit‘ (dt. ebenfalls bei Carlsen). In ‚Peter Pan‘, seiner zweiten Reihe, adaptierte und interpretierte er den Klassiker von J.M. Barrie neu – ebenfalls äußerst erfolgreich und bei Egmont Ehapa als zweibändige Gesamtausgabe erhältlich (ich erinnere mich noch gut an den damaligen Run auf die limitierten HC-Ausgaben). Mit ‚Das Nest‘ geht oder ging er einen neuen Weg, denn das Konzept ist ungewöhnlich: zwar stammt die Idee von Loisel, aber Zeichnungen und Skript teilt er sich zu gleichen Teilen mit Jean-Louis Tripp (beide leben in Kanada), was Inhalt und Gestaltung betrifft. Loisel zeichnete vor, schon recht genau, und Tripp besorgte dann die Feinheiten und drückte der Optik seinen eigenen Stil auf (wurde bis Band 8 mit zwei Beispielseiten veranschaulicht). Band 9 bildet den Abschluss der Serie. Ein extra dicker Band. Ein wehmütiger Abschied, der schwer fällt. Der am Ende aber noch versüßt wird und in Form von fiktiven Fotos einen Ausblick auf das weitere Leben der Protagonisten gibt. Ganz edle franko-belgische Comickunst. Virtuos und liebevoll bis ins Detail erzählt, mit einem dann doch spektakulären Finale, bei dem am Ende wie immer noch alles gut wird. (bw)

Das Nest, Band 9: Notre Dame
Text & Zeichnungen: Régis Loisel, Jean-Louis Tripp
128 Seiten in Farbe, Softcover
Carlsen Verlag
26,99 Euro

ISBN: 978-3-551-76059-3

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