Wirkliche Großmeister des Horrors gibt es wenige, aber ihr vollkommen unbestrittener Meister ist Edgar Allan Poe. In haarsträubenden Erzählungen, schaurigen Gedichten, scharfsinnigen Essays und einem faszinierenden Romanfragment (das Jules Verne in seinem Roman ‚Die Eissphinx‘ vollendete) schuf er einen Kosmos, in dem das Abseitige, Entsetzliche und grauenhaft Schöne regiert und setzte Maßstäbe, die in der Horrorliteratur bis heute gelten. Dabei geht es oft weniger um folgerichtige Handlungsabläufe, sondern um die Schattenseite der menschlichen Psyche und schockierende, bizarre Effekte – in Poes eigenen Worten das ‚Arabeske‘, das Vexierspiel, den Moment des reinen Terrors, was so Paradigmen für die schwarze Romantik und die Gothic Novels lieferte. In Poes Gedichten, die wie ‚The Raven‘ oft von zunehmend wahnhaften Protagonisten vorgetragen werden, zeigte er sich oft als Vorläufer des Symbolismus.
Ganz nebenbei erfand er – ganze vierzig Jahre bevor Arthur Conan Doyle einen gewissen Pfeifenraucher auf eine Studie in Scharlachrot schickte – nahezu eigenhändig das Genre der Detektivgeschichte: in Erzählungen wie ‚The Purloined Letter‘ (Der entwendete Brief) oder ‚Murders In The Rue Morgue‘ (Der Doppelmord in der Rue Morgue) finden scharfsinnige Beobachter über genaue Analyse und Rückschlüsse, bei Sherlock Holmes dann Deduktion genannt, zu überraschenden Lösungen vertrackter Fälle. Der mit gerade einmal 40 Jahren viel zu früh verstorbene, selbst gequälte Poe hinterließ ein gewaltiges Opus, das neben Filmversionen – vor allem die stilisierten, farbsymbolischen Versionen eines Roger Corman aus den 60ern mit einem kongenialen Vincent Price – schon häufig auch die Phantasie von Comic-Künstlern anregte: so etwa legte Berni Wrightson in den 70er Jahren ein ganzes Edgar Allen Poe-Portfolio sowie eine Umsetzung der Erzählung ‚The Black Cat‘ vor.
In diese gute Tradition stellte sich 2012 und 2014 auch der umtriebige Richard Corben, der auf ein mindestens ebenso umfangreiches Werk wie Meister Poe blicken kann – von den Anfängen im Underground über die Erfolge im französischen Metal Hurlant-Magazin Mitte der 70er bis hin zu seinen Beiträgen zu Mainstream-Superhelden-Titeln spielte sich Corben stets gerne in der Schnittmenge zwischen Horror und SF, schuf mit seinem Den-Zyklus eine an H.P. Lovecraft angelehnte Parallelwelt und lieferte mit ‚Bloodstar‘ eine der ersten so bezeichneten Graphic Novels. Im Rahmen der Serie Dark Horse Presents legte er mit Edgar Allan Poe’s ‚Spirits of the Dead‘ seine ganz eigene Interpretation der Poeschen Gedankenwelt vor. Der Bogen spannt sich dabei von Gedichten (Geister der Toten, Allein, Die Schlafende, Der Rabe) über die klassischen, weithin bekannten Horror-Erzählungen (die meisterhafte ‚Maske des roten Todes‘, der klaustrophobisch-psychopathische ‚Untergang des Hauses Usher‘) bis hin zu dem ‚Doppelmord in der Rue Morgue‘.
Dabei setzt Corben die Gedichte nicht nur visuell, sondern auch erzählerisch um: ‚Die Stadt im Meer‘ – in der literarischen Vorlage ein Werk des vollkommen durchgeknallten Roderick Usher – dient nur als Auslöser für eine Geistererzählung um einen verbrecherischen Kapitän, der in einem Sturm seine „Fracht“ Sklaven über Bord wirft und von ihnen heimgesucht wird. Die Erzählungen werden dabei auf ihre zentralen Effekte verdichtet: die Phase der Beweisaufnahme in der Rue Morgue, innerhalb derer in der Short Story sich die Hinweise auf einen buchstäblich unmenschlichen Täter zunehmend verdichten, erscheint stark gekürzt, während der grausam ausgebreiteten Schluss-Sequenz viel Raum gegeben wird. Die atmosphärischen, elegisch-symbolischen Beschreibungen von Prosperos Fest in der Maske des roten Todes treten gegen den Einbruch der bedeutungsschweren Titelfigur zurück, während Prosperos ungerührt-zynische Feierlaune durch moderne Elemente verstärkt wird: „Was können wir tun?“, fragt er angesichts der tobenden Pest. „Ich schmeiße eine Party!“
Insgesamt bricht Corben bewusst die Illusionsebene auf, indem er einen mysteriösen Erzähler einführt, der wie weiland in den seligen Gespenstergeschichten durch die Seiten führt und bisweilen auch innerhalb der Geschichten auftritt oder diese als Außenstehender kommentiert („Er hat Glück, mit heiler Haut davonzukommen“, entlässt er den Besucher des untergegangenen Hauses Usher in den Regen). So entsteht eine Underground-beeinflusste, postmoderne Note, zu der sich Corbens typischer Zeichenstil gesellt: plastisch überformte, teilweise grotesk anmutende Körper, gerne auch barbusige Damen, durchwandern stilisierte Landschaften, die innere Degeneration dringt – wie etwa bei Roderick Usher oder Morella – nach außen, die lebendig Begrabenen erwachen verzerrt zu neuem Leben, und der Eroberer Wurm regiert am Ende alles. Somit entsteht eine furiose Neuinterpretation einiger Schlüsselwerke Poes, die genügend nahe am Original bleibt, um Freunde der Originale zu faszinieren, aber auch kongenial moderne Elemente benutzt und in dieser Kombination die zentralen Schockmomente (alptraumhaft z.B. in ‚Berenice‘) und bizarr-wahnhaften Zustände der Figuren (Roderick Usher, der Erzähler in ‚Der Rabe‘) meisterhaft kristallisiert.
Der vorliegende Band versammelt die Dark Horse-Presents-Ausgaben 9 sowie 16-20 von 2012 und 28-29 von 2014 und sortiert die Beiträge nach dem Erscheinungsjahr der Vorlagen (von ‚Geister der Toten‘ aus dem Jahr 1827 bis zu ‚Das Fass Amontillado‘ von 1846), wodurch auch noch ein chronologischer Überblick über die Entwicklung des Poeschen Schaffens entsteht. Sehr schön. (hb)
Geister der Toten
Text & Bilder: Richard Corben, nach Edgar Allan Poe
216 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
29,80 Euro
ISBN: 978-3-95839-145-1