Opus, Band 1 (Carlsen)

Mai 4, 2015

Opus, Band 1 (Carlsen)

Philosophisch-erkenntnistheoretische Frage: führen die Figuren in einem Comic eigentlich ein Eigenleben? Und was passiert, wenn ihnen die Handlung, die der Autor sich einfallen lässt, nicht passt? Genau damit wird der Manga-Zeichner Chikara Nagai unversehens konfrontiert, als er seine Erfolgsserie Resonance zu Ende führen will. In dieser übernatürlichen Abenteuerstory jagt die hellseherische Polizistin Sakoto den verbrecherischen Sektenführer namens Maske, unterstützt dabei vom Kommissar mit seiner Spezialeinheit und dem jugendlichen Rin, der ein ganz eigenes Hühnchen mit dem Lumpensohn zu rupfen hat. In der finalen Konfrontation, die der vom Redaktionsschluss gehetzte Nagai entwirft, stürzt sich Rin auf Maske, der die schon besiegte Sakoto gerade ins Jenseits befördern will, und wird bei dieser Rettungsaktion selbst zerlegt. Nagai schläft über der fast fertigen Skizze ein, die plötzlich ein seltsames Eigenleben entwickelt: ein finsterer Korridor öffnet sich auf dem Zeichenblock, aus dem Rin entsteigt und die Seite mit seinem gräulichen Ende, mit dem er aber so gar nicht einverstanden ist, mal flugs einkassiert.

Als Nagai erwacht, kann er gerade noch feststellen, dass hier irgendwas massiv nicht stimmt, bevor er in den Abgrund des Zeichenblattes und direkt in die Handlung seines eigenen Mangas hineingezogen wird. Plötzlich ist er es, der Sagoto vor dem Angriff der Maske rettet (indem er auf ihn fällt) und mit ihr durch die Welt flieht, die eigentlich nur in seinem Kopf existiert. Das sei ja der Traum eines jeden Mangaka, stellt er fest und überzeugt die anfangs vollkommen ungläubige Sakoto, dass er der Herr dieses Universums ist – nur so kann er alles über sie und die finsteren Pläne der Maske wissen, die auch den Kommissar längst geistig versklavt hat. Rin flüchtet sich inzwischen zu seiner ebenfalls helleseherischen Schwester und Großmutter und fasst dort einen gewagten Plan, um sein gewaltsames Ableben zu verhindern: er will in die fiktive Vergangenheit reisen, um die Maske dort auszulöschen…

Der 2010 viel zu früh verstorbene Anime-Regisseur Satoshi Kon (bekannt durch Filme wie Perfect Blue, Tokyo Godfathers und Paprika) reiht sich mit diesem faszinierenden Spiel zwischen Fiktion und Realität, das er schon 1996, kurz vor seinem ersten Film, vorlegte, in die Tradition des Illusionsbruchs und der Metareflexion ein, bei der schon Brechts Charaktere das Publikum belehrten, Pirandellos Personen auf der Suche nach ihrem eigenen Autor waren (modernes Theater, Kunst!) oder aber sich ein gewisser Deadpool gerne an den Leser wendet und sich über die Konventionen des Mediums Comic lustig macht (Action! Auch Kunst!!). Wer es noch kulturwissenschaftlicher haben möchte: der Kunstgriff nennt sich mise en abyme, also die Darstellung eines Bildes im Bild, das sich selbst enthält und somit den Eindruck der Unendlichkeit erweckt. Der fiktive Autor Sakoto hat eine klischeehafte Manga-Welt geschaffen, in der die wiederum fiktiven Figuren selbst feststellen, dass man sich benehme wie im Comic (die Weltherrschaft anstrebende Maske wird als typischer Manga-Schurke bezeichnet) und die übernatürlichen Elemente wie Hellseherei gar nicht weiter hinterfragt werden (Rin etwa verdient sein Geld beim Glücksspiel, da er stets im Voraus weiß wie es ausgeht).

Neben der straighten Abenteuerstory stellt sich so eine nicht übertrieben intellektuell verworrene, sondern stets faszinierende Abhandlung über die Natur des Comics selbst, über die Konventionen, Erzähltechniken und Darstellungsmuster des Mediums, das ganz eigenen Gesetzen gehorcht. Mit viel Liebe zum Detail erschafft Kon dabei die fiktive Resonance-Serie, komplett mit farbigen Einstiegsseiten aus Teil 3, Kapitel 24, „Der Fluch der Maske“, erklärenden „was bisher geschah“-Abschnitten à la Fortsetzungsroman und – besonders schön – einer Adresse für Fanpost. In diesem umgedrehten Cosplay (nicht die Comicfigur kommt in die Realität, sondern der Autor und damit der Leser in die Fiktion) exerziert Kon letztendlich eine unterhaltsame Fassung der modernen Erzähltechnik, eine Mischung aus Realismus und Surrealismus, die auch seine unter anderem von Darren Aronofsky gepriesenen Filme kennzeichnen sollte. Dabei greift er auch – immerhin sind wir alle Kinder der 80er – auf die Grundidee des Musikvideos zurück, in dem ein Jüngling aus einem Comic entspringt und die lesende Holde mit in die Handlung zieht, nur um dann selbst den Seiten zu entsteigen. Man erinnert sich gerne. Carlsen bringt dieses neu entdeckte Juwel in zwei Bänden. (hb)

Opus, Band 1
Text & Bilder: Satoshi Kon
196 Seiten in Farbe & schwarz-weiß
Carlsen Verlag
14,90 Euro

ISBN: 978-3-551-76868-1

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