Paris in den sechziger Jahren – man raucht viel Gauloises, die Denker im schwarzen Rollkragenpulli um Jean-Paul Sartre sinnen über den Existentialismus nach, und im Kino kann man Jean-Paul Belmondo bewundern, den Jean Seberg vollkommen atemlos macht (nicht nur durch die Nacht, das war lange vorher). In dieser Welt lebt die 19-jährige Anne, die es mit der Moral nicht so genau nimmt und deshalb in der Besserungsanstalt landet. Dort verliebt sie sich in Rolande, die ihr verspricht, in Paris auf sie zu warten – prompt springt Anne aus dem Fenster der Krankenstation, bricht sich dabei das Sprunggelenk und wird auf der Straße von Julien aufgesammelt. Der hat Mitleid mit ihr, nimmt sie auf seinem Motorrad mit zu seiner Mutter, wo Anne sich erholen soll. Das klappt nicht so ganz, die Polizei schaut immer wieder mal vorbei, und so schafft man Anne weiter zu Nini und Pierre, die ein altes Hotel mit zweifelhafter Vergangenheit betreiben.
Mittlerweile hat sich Anne längst in Julien verliebt, der ebenfalls einige Zeit hinter Gittern verbracht hat und sie schließlich nach Paris bringt, zu seiner alten Bekannten Annie, einer Ex-Prostituierten. Anne träumt von einem gemeinsamen Leben mit Julien, der allerdings immer wieder für Monate abtaucht, offenbar auch eine andere Dame am Start hat und mal vergisst seine Rechnungen zu bezahlen. Dafür sorgt dann Anne, die ihre alte Tätigkeit als – wählerische – Bordsteinschwalbe wieder aufnimmt und sich zunehmend nach Julien verzehrt, obwohl doch der bürgerliche Jean ihre ganze Vergangenheit und Situation akzeptieren und sie gut versorgen würde. Doch die Anziehung zu Julien ist viel zu groß, Anne fährt mit ihm an den Strand, dort gesteht er, dass er eine andere heiraten will und sie doch seine Geliebte werden solle. Anne überzeugt ihn, dass sie die einzig Wahre für ihn ist, Julien will seine Affäre beenden und zu ihr zurückkehren – doch in diesem Moment greift die Polizei zu und verhaftet Anne, deren Leben vorüber ist, bevor es begonnen hat.
In dieser zutiefst anrührenden, erschütternden Geschichte mag man fast sagen Bonjour Tristesse – die junge Albertine Sarrazin schrieb den Roman 1965 im Gefängnis unter dem Eindruck der „Knast-Literatur“ eines Jean Genet, Begeisterungsstürme allenthalben, Sartres Frau und Feministin Simone de Beauvoir griff der Autorin bei der Publikation unter die Arme – wie auch der Erstling Kassiber ist Der Astragal (die medizinische Bezeichnung für das Sprunggelenk, dessen Bruch ein wenig überdeutlich stellvertretend für die Versehrtheit und Verletzung Annes steht) stark autobiographisch, schildert Sarrazins eigene Jugend, die sie in Internaten, Besserungsanstalten und Haft verbrachte und von Selbstmordversuchen und Sinnsuche gekennzeichnet war. Ihr viel zu früher Tod 1967 (an den Folgen einer Operation) unterstreicht die Tragik, die auch den Astragal durchzieht – Anne erliegt vollkommen ihrer Amour Fou zu Julien, der sie erst liebt, dann gehörig schlecht behandelt und schließlich sogar zu seiner Geliebten degradieren will. Ob er sich nun wirklich von seiner „anderen“ Frau trennen würde, bleibt offen, Annes Verhaftung steht ganz im Stile des Existentialismus, der ja besagt, dass die Welt zunächst einmal sinnlos und kalt ist und die Hölle, in den Worten von Sartre, die anderen sind, ihre Urteile und Verletzungen. Das ist die absolute Freiheit, von allen Werten und Koordinaten, und die lebt Anne in ihrer fast schon selbstverständlich anmutenden Prostitution aus, wobei sie immer eine sinnstiftende Beziehung sucht und diese in Julien nur scheinbar findet. So entsteht eine Kombination aus Milieustudie, Knastroman und Liebesgeschichte, die seitdem Millionen Leser in ihren Bann zieht und mit Horst Buchholz auch verfilmt wurde.
Anne-Caroline Pandolfo und Terkel Risbjerg legen mit ihrer Umsetzung des Romans bereits ihre zweite Graphic Novel auf Basis einer literarischen Quelle vor. Pandolfo kondensiert das Romangeschehen gekonnt auf Graphic Novel-Dimensionen, kristallisiert die entscheidenden Momente heraus, während Risbjerg das Geschehen in getuschtem Schwarz-Weiß atmosphärisch inszeniert, teilweise filmisch, teilweise bewusstseinsstromartig, oft in Details und schlaglichthaft. Ausgeschwärzte Panels tragen die Gedanken der Titelfigur, die am Ende in ein gleißendes Weiß übergehen – mit den Worten „Mach dir keine Sorgen. Ich kann laufen“. Ein feines Beispiel, wie mitreißend und bewegend Literatur sein kann und wie gut eine Umsetzung in Medium Comic gelingen kann. (hb)
Der Astragal
Text: Anne-Caroline Pandolfo, nach Albertine Sarrazine
Bilder: Terkel Risbjerg
224 Seiten in schwarz-weiß, Softcover
Verlag Schreiber & Leser
22,80 Euro
ISBN: 978-3-943808-43-8