Nach Mitternacht (Splitter) | Comicleser

Nach Mitternacht (Splitter)

Oktober 21, 2025
Nach Mitternacht (Splitter Verlag) von Gaëlle Geniller

Anfang der 1920er Jahre. Guerlain Drosera ist Kunst-Restaurator. Gemeinsam mit seinem siebenjährigen Sohn Nisse zieht er aus London wieder in das Haus seiner Kindheit – seine Frau Daphne, eine Malerin, will später nachkommen. Das Haus, die Villa Drosera, ähnelt eher einem Schlösschen mit vielen Zimmern und einem großen, verwunschenen Garten. Zeit seines Lebens leidet Guerlain an Schlafstörungen. Ist Mitternacht erst einmal durch, ist mit Schlafen Essig. Eines Tages entdecken die beiden drei Krähen im Schrank, die sich seltsam verhalten: Sie wollen nicht ins Freie, begleiten Guerlain fortan auf Schritt und Tritt und lassen gerne Blumen auf ihn hinabregnen. Mit der Zeit wird Guerlan bewusst, dass es im Haus spukt. Ein Geist geht um, zumindest wenn man Nisse glauben mag, der damit auch im Gegensatz zu Guerlain überhaupt kein Problem zu haben scheint…

All das klingt natürlich nach einer veritablen Schauermär: Ein Geist, ein finsteres Spukhaus. Düstere Schockmomente, purer Schrecken. Aber: lediglich Schauermär stimmt. Denn Autorin und Zeichnerin Gaëlle Geniller stattet die Handlung mit üppiger Optik aus, die man in diesem Genre nicht unbedingt erwartet. Prächtige Farben durchziehen die Seiten, mit feinem Strich gezeichnet, der eher mangaesk als klassisch franko-belgisch ist. Guerlain kleidet sich gerne in aufwändige Gewänder und selbst die zahlreichen Sequenzen, die in der Nacht spielen, erscheinen kaum bedrohlich. Was zur Haltung von Nisse passt, der mit seiner kindlichen Neugier und Unvoreingenommenheit das Geisterhafte vorbehaltlos zu akzeptieren scheint, ganz im Gegensatz zu Vater Guerlain, der immer wieder das weitläufige Herrenhaus nach Übernatürlichem durchsucht und doch nichts findet.

Im zweiten Teil des Bandes ändert sich dann der Fokus. In einer ausführlichen Rückblende erfahren wir mehr über Guerlain. Hier sehen wir ihn als Kind, das kaum spricht, das in ebenjenem Haus als Nesthäkchen von seinen drei älteren Schwestern aufgezogen wird (wo sind die Eltern?). Und das von ihnen u.a. lernt, seine Gefühle mit Blumen auszudrücken. Langsam dämmert es dann auch uns Lesern, was es mit dem Geist auf sich haben könnte, als die Handlung im letzten Teil wieder zurück springt. Tatsächlich ist nicht die dann doch recht schnelle Auflösung der Kern des Bandes, sondern der Weg dahin. Wie konnte Guerlain so vieles aus seiner Kindheit vergessen oder verdrängen? Warum landet er doch wieder hier? Was hat es mit den drei Krähen auf sich? Und natürlich mit dem vermeintlichen Geist und dessen An- oder Abwesenheit?

Die Schauerstory, die sich in ihrer Intensität natürlich Genre-gerecht steigert, ist ganz klassisch inszeniert: Es beginnt mit seltsamen, unerklärlichen Geräuschen, dann scheint jemand ganz diffus als Schatten durchs Bild zu huschen, Türen gehen einfach auf, das Telefon klingelt nachts unmotiviert. Und Nisse scheint des Öfteren mit etwas oder jemandem zu sprechen, das oder der außerhalb des Bildes bleibt. Dazu die zahlreichen Familienportraits im Flur, die Guerlain und Nisse immer wieder anzustarren scheinen. Gerne verpackt Gaëlle Geniller ihre opulenten Panels in schön choreografierte Seiten mit verspielten symmetrischen Ornamenten, was das Geschehen zusätzlich atmosphärisch unterstützt. Der ausführliche Anhang zeigt diverse Skizzen und Entwürfe und dazu noch einen kleinen Epilog. (bw)

Nach Mitternacht
Text & Bilder: Gaëlle Geniller
208 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
29,80 Euro

ISBN: 978-3-96792-019-2

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