
Roland scheint Karriere zu machen. Er ist Amtmann seines Dorfes, was einem Ortsvorsteher oder Bürgermeister nahe kommt. Gerade hat er erfolgreich einen Hexenprozess abgeschlossen und die verurteilte „Hexe“ Greta ihrer Strafe zugeführt: Dem Scheiterhaufen. Rolands Talent Hexen „zu entdecken“ spricht sich offenbar herum. So wird er in die Stadt beordert, um dort einen neuen einschlägigen Prozess zu leiten. Seine junge Ehefrau Ingrid wird indessen von Alpträumen heimgesucht. Dort, im Schlaf, erscheint ihr ein Unbekannter mit dämonischen Zügen, der sie offenbar verführen will. Eine Versuchung, der Ingrid, die von ihrem Mann sträflich vernachlässigt wird, anfangs widersteht. Doch der Unbekannte lässt nicht locker und Ingrids Widerstand scheint immer mehr zu bröckeln. Zumindest in ihren Träumen…
Zwei Autorinnen und Zeichnerinnen und damit zwei völlig unterschiedliche Zeichenstile: Becky Cloonan (diverse DC Titel, v.a. Batman und Wonder Woman) und Tula Lotay (u.a. Barnstormers, Bodies) teilen sich dem Band auf. Während Cloonans Zeichnungen mit einem kräftigen Tuschestich eher traditionell daherkommen und in der Gegenwart Ingrids und Rolands spielen, beschäftigt sich Lotays Kunst mit Ingrids Träumen, als visuell beeindruckende Mischung aus Realismus (die fast fotorealistische Darstellung von Ingrid) und Abstraktheit (die diffuse, nicht fassbare Gestalt des „Traum-Verführers“ – nennen wir ihn mal so). Doch wie sich nach und nach Wirklichkeit und Traum nicht mehr unterscheiden lassen, vermischt sich auch die Zuordnung der Zeichenstile. Dabei lädt die Figur des Traum-Verführers zu Interpretationen ein: ist er ein (realer) Dämon oder wirklich nur eine manifestierte Gestalt aus den Träumen, die für Ingrids unerfüllte Sehnsüchte steht?
Roland stellt seinen Beruf, bzw. seine Berufung über alles. Ingrids eindeutige Avancen („Du bist mein Gemahl, ich SOLL dich lieben.“) weist er stets brüsk zurück und erweist sich als bieder, bigott und humorlos („Der Teufel ist real und er schläft nicht.“), während die unglückliche und unverstandene Ingrid immer mehr und immer willentlicher in ihren Träumen versinkt, um dort erotische Heimsuchungen zu durchleben. Bald ahnt man, dass die kühle Ehe der beiden tragisch verlaufen wird. Doch zuvor entdeckt Ingrid dank ihres „Traum-Verführers“ eine Amour Fou, die ein ganz anderes Licht auf den Hexenprozess ihres Mannes wirft, und die sie von einer ganz anderen Seite zusätzlich in Gefahr bringt.
„Ich bin all das, was du nicht fühlen sollst“ – die Worte des Traum-Verführers an Ingrid spielen v.a. auf ihr ungestilltes sexuelles Verlangen an und damit auf das Frauenbild (nicht nur) jener Zeit, in der es einfach war, eine Frau, die nicht angepasst war oder sich nicht unterordnete, als Hexe zu brandmarken und zu verdammen. Bis zur letzten Konsequenz. Auch was Ingrids Erlösung betrifft. Der Anhang beinhaltet diverse Cover und Variant-Cover und einige Comicseiten als Vor-, bzw. Tuschezeichnungen, und zeigt damit noch einmal die beiden völlig unterschiedlichen zeichnerischen Ansätze und Herangehensweisen. Eine Kurzgeschichte, wieder mit einer vermeintlichen Hexe, wieder von Cloonan und Lotay gemeinsam gestaltet, beschließt den außergewöhnlichen Band. (bw)
Somna – Eine Gutenachtgeschichte
Text & Bilder: Becky Cloonan, Tula Lotay
168 Seiten in Farbe, Hardcover
Cross Cult
35 Euro
ISBN: 978-3-98666-714-6