Schon gehört, was Ed Gein getan hat? (Splitter)

Dezember 13, 2023
Schon gehört, was Ed Gein getan hat? (Splitter Verlag)

„Mutter! Was hat Du getan?“ Mit wohligem Schauer erinnern wir uns daran, als wir im Dritten Programm des Bayrischen Rundfunks, lange vor Privatfernsehen und Äonen vor der modernen Strömungsvielfalt, die Mär von Norman Bates erstmals verfolgten und seinerzeit sogar anfangs noch glaubten, dass der gute Junge seine Mutter pflegt, die allerlei Unsinn ausheckt. Dass der durchaus verwirrte Motelbetreiber die Leiche seiner Mutter im Keller aufbewahrt, sich selbst Schürze und Perücke überstreift und seine weiblichen Gäste meuchelt, das ist mittlerweile im kollektiven Filmbewusstsein mehr als angekommen. Dass diese wüste Geschichte aber keinesfalls dem perfiden Geist Alfred Hitchcocks oder der sensationsversierten Feder von Robert Bloch entsprang, der die Romanvorlage lieferte, sondern auf wahren Begebenheiten beruht, die die literarische und filmische Version an Abartigkeit noch weit übersteigen, das geriet über die Jahre ein wenig in Vergessenheit.

In eben genau diese Hintergründe kann man nun mit der Graphic Novel eintauchen, die der Serienmörder-Spezialist Harold Schechter auf der Basis von historischen Dokumenten, Verhörprotokollen und Zeitungsberichten ausbreitet. Schechter skizziert dabei die Lebensgeschichte von Ed Gein, der sich als „Plainfield Ghoul“ Ende der 50er ins amerikanische Bewusstsein brannte, als die Ermittlungen zum Mord an Bernice Worden die Polizei zum wunderlichen Ed und seiner abgelegenen Farm führen, wo man abgeschnittene Nasen, Schüsseln aus Schädelknochen, Masken aus menschlichen Gesichtern und vor allem den Leichnam findet, der wie ein Tier ausgeweidet aufgehängt wurde.

In Rückblenden zeichnet Schechter die Entwicklung Geins nach, der aus einer zerrütteten Familie stammte, in der der alkoholkranke Vater die beiden Söhne schlägt, während die tyrannische Mutter Augusta Gein immer weiter einem religiösen Wahn verfällt, der jede menschliche Regung als Sündenpfuhl verteufelt. Nach dem Tod des Vaters 1940 steigert sich die Psychose der Mutter immer mehr, bis Eds Bruder Henry die heruntergekommene Farm, die man in der Nähe von Plainsfield bewohnt, verlassen will. Dazu kommt es allerdings nicht: Henry stirbt unter mysteriösen Umständen, bald munkelt man, Ed könnte etwas damit zu tun haben. Vollkommen aus der Bahn wirft Ed dann allerdings der Tod der Mutter im Jahr 1945, nach dem er sich völlig in seinen eigenen wachsenden Wahn zurückzieht.

1957 konfrontiert ihn die Polizei, die im Mordfall Bernice Worden ermittelt, und schnell steht Ed als Haupttatverdächtiger fest. Bei der Durchsuchung der Farm, die auch die Nerven der hartgesottenen Gerichtsmediziner aufs Äußerste belastet, finden die entsetzten Polizisten unter den Gesichtsmasken auch den Kopf von Mary Hogan, die 1954 unter ungeklärten Umständen verschwand. Ed wird verhaftet, während die Ermittlungen und Durchsuchungen ein verstörendes Bild zeichnen: offenbar versuchte der geistig zutiefst derangierte Ed, sich mit weiblichen Leichenteilen als Frau zu verkleiden und damit der toten Mutter zugleich nahe zu sein und sie zu besiegen. Die nachfolgenden psychiatrischen Untersuchungen attestieren ihm Schuldunfähigkeit aufgrund einer schizophrenen Persönlichkeitsstörung, so dass Ed für Jahrzehnte in Sicherheitsverwahrung landet, während seine Farm abbrennt und seine grausigen Taten den Weg in die US-Kultur finden…

Vor Ed Gein, so eine der zentralen Aussagen eines Wissenschaftlers, gab es Bedrohungen nur aus dem All, aus Transsylvanien oder von der Atombombe. Mit Ed Gein zog das Grauen direkt in die Nachbarschaft, er war das erste „All American Monster“, das die Inspiration für zahllose ikonische Horrorfiguren lieferte: angefangen von Norman Bates, der direkten Umsetzung von Gein in Roman und Film, entlehnen auch Leatherface (der Motorsägenmann mit der menschlichen Maske aus dem „Texas Chainsaw Massacre“), Jason Verhoes und vor allem Buffalo Bill aus dem „Schweigen der Lämmer“ (der sich einen Anzug aus weiblicher Haut anfertigt, weshalb „es sich jetzt mit der Lotion einreiben“ soll) ihre Grundzüge vom „Plainfield Ghoul“.

Bemerkenswert ist dabei das Katz und Maus-Spiel, das Gein mit den Ermittlern veranstaltete: war er einfach nur naiv und gestört, oder wich er ganz bewusst Fragen aus und wiederholte absichtlich sein „Das kann gut sein“, das er in den Verhören immer wieder vorbrachte? Schechter lässt diese Fragen bewusst offen, ebenso wie die Interpretation von Geins Psychose: anfänglich als erster populärer Fall eines Oedipus-Komplexes kolportiert, gibt es durchaus auch andere Sichtweisen, die in Eds Tun eine bizarre eigene Religion ausmachen, in der er wie die Inkas oder die Kopfjäger der von ihm verschlungenen Groschenromane die Körper seiner Opfer überstreifte, um seinem Gott, der Mutter, zu huldigen.

Wie dem auch sei, schauerlich erscheint in jedem Falle die Tatsache, dass Gein, dem erst 1968 nach Feststellung seiner Zurechnungsfähigkeit der Prozess gemacht wurde, zwar nie mehr auf freien Fuß kam, aber hinter den Mauern von Sanatorien noch bis 1984 lebte, während 1983 die Psycho-Mär in einer Fortsetzung wieder aufgerührt wurde. Dieses Kaleidoskop menschlicher Abgründe inszeniert Eric Powell (Zeichner der schwarzen Satire „The Goon“) atmosphärisch in Schwarz-Weiß, mit suggestiven Szenen, in denen die Mutter übergroß erscheint, die Details nicht ausgespart werden und auf einigen Seiten Stil und einzelne Panels der seligen EC-Comics durchscheinen, denen Fredric Wertham ebenfalls in den 50ern zu Leibe rückte. Insofern ein schockierendes Dokument über den ersten modernen Serienmörder, dessen Untaten ihn schnell zum urbanen Mythos machten, wie ein Journalist erkennt: „Ein mythologisches Wesen. Hat wohl mit der menschlichen Vorstellungskraft zu tun. Wenn ein mörderischer Wahnsinniger wie Gein auftaucht, kann der Verstand die Realität einfach nicht erfassen. Also wird er zur Legende“. (hb)

Schon gehört, was Ed Gein getan hat?
Text & Story: Harold Schechter
Bilder: Eric Powell
224 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
35 Euro

ISBN: 978-3-98721-119-5

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