Leicht zu ergründen ist sie nicht, die japanische Seele, allzu anders und dem westlichen Betrachter bisweilen durchaus fremd sind Land, Leute und Denkweise. Auch wenn Japan seit dem Manga-Hype, der nun schon Jahrzehnte anhält, zum Comic-Mekka geworden sein mag und sich auch allen Kindern der 70er (damals noch unbewussterweise) unauslöschlich in Form von Wickie, Kimba, Biene Maja und natürlich Captain Future eingebrannt hat, bleibt zumindest mir die Faszination von zerzausten Männchen und in Lumpen gekleideten Cosplay-Spielern verschlossen. Dass es auch anders geht, das zeigt ebenfalls seit Jahren Jiro Taniguchi, der mit seinen Graphic Novels gerne aus dem Alltäglichen erzählt, jenseits aller spektakulären Sci-Fi-Plots oder Knalleffekte. Sein Werk Harukana Machi-e, eine Geschichte der Suche nach der eigenen Jugend und Identität (original 1997, deutsch 2007 unter dem Titel Vertraute Fremde erschienen und 2010 verfilmt) erhielt 2003 in Angouleme immerhin den Preis für das beste Szenario und wurde 2008 in Erlangen als bester Manga geehrt.
In Der Kartograph greift Taniguchi nun die historische Figur des Ino Tadataka auf, der das Japan des 19. Jahrhunderts per Fußwanderung vermaß – zu einer Zeit, als Tokyo noch Edo hieß und die hauptsächliche Herausforderung darin bestand, eine möglichst gleichmäßiges Schrittabfolge zu halten. In insgesamt fünfzehn Episoden durchwandert der Kartograph Edo und sein Umland und erkundet seine Welt aus unterschiedlichen Blickwinkeln, die immer wieder, wie in einem Bewusstseinsstrom, die Perspektive des Beobachteten einnehmen und aus dieser geschildert werden – wir erleben Japan so aus Sicht eines Vogels, eines Elefanten, einer Libelle und vieles mehr.
Der umhergehende Tadataka trifft Künstler (z.B. den Haiku-Dichter Issa Kobayashi), spielt mit Kindern, macht Erfindungen, trinkt zu viel Sake und bereist schließlich ganz Japan, um seine Arbeit zu vollenden. Diese eigentliche, eher spärliche Handlung bleibt Nebensache, was Tadataka ausbreitet, ist ein Panorama der Zeit, im Stil angelegt an die japanische Holzschnittkunst Ukiyo-e und ihren Meister Ando Hiroshige, in der Landschaften, historische Gegebenheiten, Theater und Vergnügungsviertel genauso gemischt erschien wie in dieser Graphic Novel. So entsteht ein malerischer Reigen von teilweise panoramahaften Eindrücken, die durch ihren gemächlichen Erzählton einen deutlichen Kontrapunkt gegen die grellen Effekte anderer Gerne-Vertreter setzt. Langsam. Stet. Wie ein Spaziergang eben.
In der vorliegenden Ausgabe werden die wichtigsten Angelpunkte durch ein Glossar erklärt. (hb)
Der Kartograph
Text & Bilder: Jiro Taniguchi
220 Seiten in schwarz-weiß, Softcover, Kleinformat
Carlsen Verlag
16,50 Euro
ISBN: 978-3-551-75102-7